Next Generation Lean: Lean 4.0

Mit der erfolgreichen Einführung verschiedener Bausteine des Lean Manufacturings haben viele Unternehmen die Effizienz Ihrer Produktion und damit die Wettbewerbsfähigkeit des gesamten Unternehmens nachhaltig verbessern können. Doch die Zeiten eines stabilen Produktionsumfelds mit einer planbaren Nachfrageentwicklung und einem überschaubaren Produktspektrum sind vorbei. Individualisierung ist angesagt – und die schlägt auch bis auf den Herstellprozess durch. Dies bedeutet für die auf dem Ansatz der Standardisierung beruhenden Gestaltungsprinzipien des Lean Manufacturings eine permanente Anpassungsfähigkeit. Die Leitgedanken der Industrie 4.0 mit den Ideen der Selbststeuerung bieten aus Sicht des Fraunhofer IML einen vielversprechenden Lösungsansatz, die bewährten Werkzeuge aus dem Lean-Methodenbaukasten sinnvoll weiterzuentwickeln und mit ihnen ein neues Effizienzlevel zu erreichen.

Industrie 4.0 ist in aller Munde. Die damit verbundenen Potenziale werden teilweise euphorisch gehandelt. Für Unternehmen entsteht so der Eindruck, dass man sich I 4.0 nicht entziehen kann und das ist auch richtig angesichts der zunehmenden Volatilität der Nachfrage und der zunehmenden Individualisierung der Kundenanforderungen. Die Diskussionen um I 4.0 sind aber gerade im Mittelstand noch mit vielen Unsicherheiten behaftet. Das fängt damit an, dass viele Unternehmen kein klares Bild von Industrie 4.0 haben und dort die eher abschreckende Vision einer nahezu menschenleeren und autonomen Produktion vor Augen haben, die man sich für das eigene Unternehmen nicht vorstellen kann. Ein weiterer Grund ist, dass die Forschung in diesem Gebiet immer noch in den Anfängen steckt. Inzwischen existieren zwar erste technische Lösungen für I 4.0, ihre organisatorische Einbindung in das Betriebsgeschehen ist aber noch weitgehend unklar.

Dabei gibt es aus Sicht des Fraunhofer IML mit Lean 4.0 gerade für den Mittelstand einen kurzfristig erfolgversprechenden Ansatz, mit Hilfe von I4.0-Lösungen die Effizienz in der eigenen Produktion weiter zu verbessern¹. Kurzfristig deswegen, weil die Grundphilosophie einer schlanken Produktion weiterhin verfolgt werden soll und es eher darum geht, die bereits erfolgreich eingeführten Lean-Methoden und Werkzeuge mit Hilfe von Industrie 4.0-Lösungen in ihrer Effizienz und ihrem Anwendungsspektrum weiter zu verbessern bzw. auszubauen.

Lean und Industrie 4.0 passen zusammen

Für die Weiterentwicklung von Lean zu Lean 4.0 sprechen vielerlei Gründe:

  • Kompatibilität der Gestaltungsansätze:
    Lean und Industrie 4.0 passen gut zusammen. Beide greifen auf dem betrieblichen Shopfloor an, basieren auf einem dezentralen Steuerungsansatz und verfolgen die klassischen Effizienzziele. Während die Lean-Philosophie einen eher organisatorisch geprägten Gestaltungsansatz mit einer begrenzten Automatisierung darstellt, der eine gezielte Komplexitätsreduktion anstrebt, werden im Kontext von Industrie 4.0 eher technische Problemlösungen mit einem höheren Automatisierungsgrad verfolgt, um die Komplexität beherrschen zu können². Doch auch diese offensichtlichen Unterschiede können sich in der Form sinnvoll ergänzen, dass in einem ersten Schritt mit den Lean-Prinzipien die vorhandene Komplexität reduziert werden soll, um über den Einsatz von Industrie 4.0-Technologien die verbleibende beherrschbar zu machen. Grundvoraussetzung für eine Zusammenführung der beiden Ansätze ist aber ein Mindestmaß der Digitalisierung der Auftragsabwicklungsprozesse in den Unternehmen.
  • Hohe Durchdringung und Stellenwert von Lean in der Produktion:
    Eine internationale Studie aus 2009³ zeigt, dass bereits vor 6 Jahren nahezu 68% der produzierenden Unternehmen Lean-Methoden eingeführt hatten und weitere 20 % die Einführung für die nächsten 2 Jahre planten. In dieser Studie wurden die teilnehmenden Unternehmen entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit (Basis waren hier Kennzahlen zu EBITDA pro Mitarbeiter, Lagerumschlag, Liefertreue etc.) in 5 Performance-Gruppen unterteilt. Demnach konnten nur 5% der Unternehmen als Top-Performer und 10% als Worst-Performer eingestuft werden. Bemerkenswert ist die folgende Kohärenz: 93% der Top-Performer nutzen Lean, 70% der Worst-Performer nicht. Ein derartig erfolgreiches Produktionskonzept wollen die Unternehmen verständlicherweise nicht aufgeben. Doch die Zeiten eines stabilen Produktionsumfelds mit einer planbaren Nachfrageentwicklung und einem überschaubaren Produktspektrum sind vorbei. Die zunehmende Individualisierung der Produkte wirkt sich bis auf den Herstellprozess aus. Dies bedeutet für die auf dem Ansatz der Standardisierung beruhenden Gestaltungsprinzipien des Lean Manufacturings eine ständige Anpassung.
  • Lean bleibt das führende Gestaltungsprinzip:
    Die Leitgedanken der Industrie 4.0 mit den Ideen der Selbststeuerung bieten aus Sicht des Fraunhofer IML einen vielversprechenden Lösungsansatz, die bewährten Werkzeuge aus dem Lean-Methodenbaukasten sinnvoll weiterzuentwickeln und mit ihnen ein neues Effizienzlevel zu erreichen. Damit wird die mit Unsicherheiten behaftete 4. Industrielle Revolution zu einem beherrschbaren evolutionären Prozess der Weiterentwicklung des Lean-Gedankens. Die bereits erfolgreich eingeführten Grundprinzipien einer schlanken Produktion bleiben erhalten und werden punktuell mit dem Verfügbarwerden geeigneter technischer Lösungen aus der I 4.0 sinnvoll ergänzt.

Potenziale von Lean 4.0

Ganz konkret lassen sich die Potenziale von Lean 4.0 exemplarisch an der Aufgabe der Produktionsversorgung verdeutlichen. Dabei ermöglicht die Weiterentwicklung von Lean um Technologien der Industrie 4.0 eine Beschleunigung der Informationsflüsse durch die Digitalisierung und eine Beschleunigung der Entscheidungsprozesse durch cyber-physische Systeme.

  • Automatisches Lieferanten Kanban
    Intelligente Behälter wie der am Fraunhofer IML entwickelte InBin⁴ melden in Abhängigkeit des Füllstandes den Bedarf an den Lieferanten und stoßen über eine automatische Bestellabwicklung die Nachschubversorgung an⁵. Die automatische Avisierung ermöglicht die Überprüfung der Versorgungssicherheit und die frühzeitige Einleitung korrigierender Maßnahmen. Mit der automatischen Rechnungsstellung und Bezahlung lassen sich auch für diese Tätigkeiten Prozesse weiter verschlanken. In Abhängigkeit der Entwicklung des Verbrauchsverhaltens und der Wiederbeschaffungszeiten ist auch eine dynamische Anpassung der Meldebestände möglich.
  • Intelligente Versorgung
    Die bereitzustellenden Materialien sind in Abhängigkeit von Merkmalen wie Verbrauchsverhalten, Gewicht, Abmaße, Wert und Verbauort spezifischen Versorgungsklassen und -prozessen zugeordnet. Zukünftig werden diese Einteilungen aufgrund der zunehmenden Dynamik immer häufiger überprüft und auch angepasst werden müssen, um die Effizienz der Versorgung aufrecht erhalten zu können. Basis dafür sind digitale Verbrauchsmeldungen und Materialanforderungen von den Verbauorten, die eine automatisierte Rekonfiguration der Versorgungsprozesse und -parameter ermöglichen.
  • Dynamisierung des Routenzugkonzeptes
    Wechselnde Produktionsprogramme auf den Montagelinien führen bereits jetzt dazu, dass sich im Zeitverlauf stark schwankende Materialbedarfe je Anlieferstelle ergeben. Zukünftig wird diese Volatilität noch zunehmen – und was viel entscheidender ist – nur noch kurzfristig voraussehbar sein. Der weitere Einsatz des an sich sinnvollen Routenzugkonzepte erfordert mehr und mehr deren situationsbedingte Planung. Dies betrifft die Zusammenstellung der einzelnen Haltestellen zu Routen und auch eine Flexibilisierung der Anlieferfrequenz⁶.
Abbildung: Lean 4.0 als kurzfristig realisierbare Evolutionsstufe zu mehr Effizienz

Abbildung: Lean 4.0 als kurzfristig realisierbare Evolutionsstufe zu mehr Effizienz

Praxisorientierte Entwicklung mit dem Fraunhofer IML

Die einzelnen Gestaltungsprinzipien, Methoden und Werkzeuge aus dem Lean-Werkzeugkasten sind in dieser Weise durchgängig auf ihre konkreten Optimierungspotenziale hinsichtlich bereits verfügbarer und in der Entwicklung befindlicher Industrie 4.0-Lösungen zu untersuchen und weiter auszuarbeiten. Für eine praxisnahe Weiterentwicklung strebt das Fraunhofer IML dazu gemeinsam mit Unternehmen unterschiedlicher Branchen die Gründung einer Task Force Lean 4.0 an. Aufbauend auf den konzeptionellen Vorarbeiten des Instituts werden die verschiedenen Methoden und Werkzeuge mit einzelnen Unternehmen aus der Task Force bis zur Anwendungsreife und auf die spezifischen Rahmenbedingungen in den Unternehmen weiterentwickelt bzw. zugeschnitten , um sie im Anschluss prototypisch einführen zu können. Die im Rahmen der unternehmensindividuellen Konzeptionierung und Realisierung gewonnenen Erkenntnisse werden auf Meilensteintreffen mit den anderen Mitgliedern der Task Force als assoziierte Begleiter ausgetauscht und diskutiert. Die Rolle eines Unternehmens kann in Abhängigkeit der betrachteten Lean-Methode zwischen einem Mitglied des Entwicklungsteams und der eines Begleiters wechseln. Finanziert wird diese Form der praxisorientierten Gemeinschaftsforschung durch die Beiträge der jeweils beteiligten Unternehmen. Die Ergebnisse dieser Zusammenarbeit sollen in den nächsten Veröffentlichungen vorgestellt werden.

Autoren:
Dr.-Ing. Frank Ellerkmann
Dipl.-Wirt.-Ing. Lukas Draude

Fachartikel zum Thema Logistik aus Werkstoffe in der Fertigung 1/2016


1  BMWi: Erschließen der Potenziale der Anwendung von „Industrie 4.0“ im Mittelstand. S. 71 ff.
2 Bick, Werner: Warum Industrie 4.0 und Lean zwingend zusammengehören. VDI-Z 11-2014, S. 46 f.
3 Abegglen Management Consultants: Lean Management Studie 2009, Wege zu höherer Wettbewerbsfähigkeit
4 www.iml.fraunhofer.de/de/themengebiete/automation_eingebettete_systeme/Produkte/IntelligenterBehaelter.html
5 Bauernhansl, Thomas; Hompel, Michael ten; Vogel-Heuser, Birgit: Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik. S. 207 ff.
6 Köhler-Schute, Christiana (2015): Industrie 4.0: Ein praxisorientierter Ansatz. Berlin: KS-Energy-Verlag, S. 121 ff.

 

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