Perlmutt als Vorbild für biomimetisches Design

Stefan Reschke, Dr. Diana Freudendahl, Dr. Ramona Langner

Die Biomimetik, im deutschen häufig auch als Bionik bezeichnet, sucht einerseits gezielt nach Strukturen und Materialkombinationen in der Natur, die als direkte Vorbilder für technische Innovationen von Bedeutung sein können, siehe z.B. den Klettverschluss. Andererseits analysiert sie biologische Struktur- oder Organisationsprinzipien als solche und sucht danach Transfermöglichkeiten in technische sowie auch prozess- und organisationsbezogene Anwendungen. Im Bereich mechanischer Eigenschaften zeigen verschiedene natürliche Materialien wie Baumhölzer, Bambus, Knochen oder Muschelschalen Eigenschaftskombinationen, die bei klassischen Werkstoffen schlecht vereinbar scheinen, z.B. sehr hohe Härte mit sehr hoher Bruchzähigkeit. Hier bieten die in der Natur typischen hierarchischen mikro-nano-Architekturen, gepaart mit vielfältigen Wechselwirkungen an den inneren Grenzflächen dieser natürlichen Materialien, vielversprechende Designvorlagen.

Ein herausragendes Beispiel für mechanische Beständigkeit sind die Seeohren (auch Paua oder Abalone genannt). Ihr Schalenaufbau, speziell die Perlmuttschicht, wurde bereits vor ca. 30 Jahren genauer beschrieben. Hierbei handelt es sich um eine hierarchische Compositstruktur aus mind. 95 Vol% Aragonit (kristallines Kalziumkarbonat) in Plättchenform und max. 5 Vol% organische Matrix, in die die Plättchen eingebettet sind. Die Aragonitplättchen haben eine Dicke von 200 nm – 500 nm, ihr Durchmesser liegt zwischen 5 µm und 10µm. Allerdings sind sie selbst wiederum mesokristallin, d.h. sie bestehen aus kristallinen Aragonit-Nanokörnern (ca. 50 – 80 nm) und organischem Bindermaterial. Die organische Matrix mit einer Schichtdicke von durchschnittlich 20 nm besteht u.a. aus dem in der Natur weit verbreiteten langkettigen Polymer Chitin und verschiedenen Proteinen, speziell dem bislang nur in Perlmutt gefunden Protein Lustrin A, das aus vielen sprungfederartigen Einheiten aufgebaut ist. Diese Matrix ist über kovalente, ionische und Wasserstoffbrücken-Bindungen für eine Vielzahl unterschiedlicher Wechselwirkungen untereinander und mit den Plättchen verantwortlich. Perlmutt als anorganisch-organischer Compositwerkstoff ist dadurch ca. 3000x bruchzäher als der Basiswerkstoff Aragonit selbst.

Die genaue Aufschlüsselung seiner Struktur- und Wechselwirkungsprinzipien hat zu zwei zentralen biomimetischen Designansätzen geführt. Einerseits sollen geordnete, hierarchisch aufgebaute anorganisch-organische mikro-nano-Strukturen mit hohem Volumenanteil an anorganischen Bestandteilen synthetisiert werden, um hohe Härte und Bruchfestigkeit zu erreichen. Andererseits muss dafür Sorge getragen werden, dass an den anorganisch-organischen Kontaktflächen eine sehr hohe Dichte an kovalenten und nicht-kovalenten Bindungen (i.e. Wasserstoffbrückenbindung, Ionenbindung, und π-π-Wechselwirkungen) für Elastizität und Bruchzähigkeit sorgt. Dementsprechend werden seit gut 10 Jahren zunehmend anorganische wie organische Bausteine und Komponenten mit per se sehr guten mechanischen Eigenschaften identifiziert, in Laborversuchen miteinander kombiniert und auf synergistische Effekte, die zu überproportional guten mechanischen Eigenschaften führen, untersucht.

Es wurde bereits eine Vielzahl an anorganischen Werkstoffen auf ihre Eignung als nanoskalige Bausteine eines biomimetischen Composites untersucht. Hierzu gehören konventionelle Materialien wie Nano-Tonerden und Alumininiumoxid, aber auch Sulfide von Übergangsmetallen, speziell Wolframsulfid und Molybdendisulfid. Insbesondere Nano-Tonerden können an ihrer Oberfläche mit funktionalen Gruppen chemisch so modifiziert werden, dass diese starke kovalente Bindungen zu einer Polymermatrix eingehen und der resultierende anorganisch-organische Composit überproportional hohe Bruchfestigkeit und -zähigkeit erreichen kann. Beispiele hierfür sind Nano-Tonerde/Polyvinylalkohol- und Nano-Tonerde-Chitosan-Composite mit sehr hoher Steifigkeit respektive Bruchzähigkeit. Des Weiteren zeigte ein Nanocomposit aus Aluminiumoxid mit PMMA-(Polymethylmethacrylat-)Matrix eine 300-fach höhere Bruchzähigkeit als Aluminiumoxid selbst.

In den letzten Jahren werden zunehmend auch kohlenstoffbasierte Nanomaterialien, speziell ein- und mehrwandige Kohlenstoffnanoröhren (CNTs), atomar einlagiges Graphen und Graphenoxid, aufgrund ihrer extrem hohen Zugfestigkeiten als „kristalline“ Komponente biomimetischer Composite untersucht. Eine besondere Rolle spielt derzeit Graphenoxid, das zwar im Gegensatz zu CNTs und Graphen noch nicht gut kontrollierbar hergestellt werden kann und per se deutlich niedrigere Festigkeitswerte als diese besitzt, aber eine immense Vielfalt an Bindungsmöglichkeiten seiner Oberfläche zu funktionalen Gruppen wie Epoxid-, Hydroxyl- oder Carboxylgruppen bietet. Über diese funktionalen Gruppen lassen sich wiederum die essentiellen kovalenten und nicht-kovalenten Bindungen der Oberfläche zu einer geeigneten Polymermatrix herstellen. So konnte mit Polyvinylakohol als Polymermatrix eine bis zu 8-fach höhere Zugfestigkeit für den Composit im Vergleich zum reinen Graphenoxid erzielt werden. Ein weiterer interessanter Ansatz ist, zusätzlich zu den funktionalen Gruppen auch Metallionen in den Composit einzubringen, um die resultierenden ionischen Bindungskräfte als weiteren Verstärkungsmechanismus zu nutzen.

Je nach verwendeter Polymerart ist es heutzutage möglich, besonders hohe Härte, Bruchfestigkeit oder Bruchzähigkeit zu implementieren. Im Gegensatz zum natürlichen Vorbild ist die Forschung noch sehr weit von einer „idealen“ Polymermischung entfernt, die es ermöglicht, die Werte aller mechanischen Eigenschaften gleichermaßen um mehr als eine Zehnerpotenz zu verbessern. Hierzu ist das natürliche Vorbild viel zu komplex. Es ist jedoch bereits länger bekannt, dass neben der Bindungsvielfalt die Geometrie der Polymerbausteine einen großen Einfluss auf die mechanischen Eigenschaften des Composits hat. Dieser Effekt wird zunehmend systematisch untersucht, z.B. durch den Einbau weiterer Nanomaterialien wie Nanofasern, Flüssigkristallelastomere oder extrem dünner Nanoplättchen.

Ein weiterer Ansatz ist das Aufschlüsseln verstärkender synergistischer Effekte an Grenzflächen, wie sie durch das Zusammenwirken von kovalenten und nicht-kovalenten Bindungen entstehen können. Derzeit beschränkt man sich analytisch auf die sechs möglichen Zweierkombinationen (kovalente und ionische Bindung, Wasserstoffbrücken und kovalente Bindung, Wasserstoffbrücken und ionische Bindung, Wasserstoffbrücken und π-π-Wechselwirkungen, kovalente Bindung und π-π-Wechselwirkungen, ionische Bindung und π-π-Wechselwirkungen).

Aufgrund der vielfältigen Synthesemöglichkeiten von anorganisch-organischen Compositen ist es zunehmend auch möglich, zusätzlich zu den verbesserten mechanischen weitere Eigenschaften wie elektrische oder thermische Leitfähigkeit und weitere Effekte maßgeschneidert zu implementieren, was künftig zu einer Vielfalt neuer Anwendungsoptionen führen könnte.

*Fraunhofer Institut für
Naturwissenschaftlich-Technische
Trendanalysen
Appelsgarten 2, 53879 Euskirchen
berichtet in jeder Ausgabe exklusiv
über Werkstofftrends

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