Die Arbeitswelt verändert sich in der Logistik hinsichtlich der aus volatilen und individuellen Märkten resultierenden Anforderungen und im Kontext der Digitalisierung rasant. Unternehmen müssen neben der Implementierung neuer Technologien und Geschäftsmodelle auch ihre Mitarbeiter in die Digitalisierung einbinden. Diese Einbindung betrifft nicht nur die Mitarbeiter auf dem Shopfloor, sondern fängt im Sinne eines ganzheitlichen Ansatzes schon bei der Planung an. Nachfolgend soll anhand der Planung von Materialflusssystemen aufgezeigt werden, wie die unterschiedlichen Akteure von der Planung über die Konzeptgestaltung bis zur Qualifizierung am Arbeitsplatz mit eingebunden werden können.
VR in der Planung
Durch die zukünftige Verschmelzung von Realität und Virtualität sowie der Kollaboration zwischen Mensch und Maschine werden unterstützende Technologieumgebungen zur gemeinschaftlichen Gestaltung zunehmend wichtiger. Virtual Reality (VR) bietet hierfür das passende Werkzeug, was insbesondere durch die rasante technische Entwicklung in den letzten Jahren begründet ist. Hochqualitative Head-Mounted-Displays, wie HTC Vive oder Oculus Rift, sind auch für Endverbraucher mittlerweile erschwinglich. VR kann für verschiedene Stufen sowie verschiedene Granularitäten der Planung eingesetzt werden, wobei die einzelnen Anwendungen die gleichen Modelle nutzen und ggf. aufeinander aufbauen. Zusätzlich gibt es immer neue Peripheriegeräte wie Handschuhe oder die Einbindung von realen Objekten.
Visualisierung von geplanten Materialflusssystemen
Bei der Planung von Materialflusssystemen gestaltet es sich für den Logistikplaner oft schwierig, das Ergebnis dem Kunden und seinen Mitarbeitern zu vermitteln. Durch VR können schwer verständliche 2D-Zeichnungen durch ein erlebbares 3D-Modell ersetzt werden, welches der Kunde aus der Egoperspektive erleben kann. Hierdurch können Kunden und Mitarbeiter einen realistischen Eindruck der geplanten intralogistischen Anlage erhalten. Viele Systeme werden bereits in 3D geplant, eine Überführung in ein VR-System ist dabei aufwandsärmer als vielfach gedacht. Abbildung 1 zeigt beispielhaft den Vergleich zwischen 2D- und 3D-Darstellung. Der Anwender wird befähigt in das geplante Materialflusssystem einzutauchen und sich bereits in der Planungsphase in diesem zu bewegen. Durch die Möglichkeit einer erweiterten Dimension in VR können Systeme schon in der Planungsphase detailliert diskutiert werden. Offensichtliche Planungsfehler sowie falsch dimensionierte Flächenbedarfe können durch das Erfahrungswissen der Mitarbeiter an einem frühen Punkt der Planung verringert werden. Die gewonnenen Erkenntnisse können direkt in eine Anpassung einfließen.
Auch in späteren Planungsphasen, wie in Ausschreibungsrunden, kann die Visualisierung eine wichtige Diskussionsgrundlage sein, um in Pflichten- und Lastenheften oft missverständliche Beschreibungen entsprechend zu verdeutlichen.
Design von Arbeitsplätzen
Nachdem das Materialflusssystem gestaltet ist, bietet VR im Gegensatz zu 2D-Zeichnungen die Möglichkeit der Arbeitsplatzgestaltung im virtuellen Raum. Was heutzutage als „Cardboard Engineering“ durchgeführt wird, kann nun direkt im Sinne eines „Digital Cardboard Engineering“ mit deutlich weniger Aufwand am gleichen Planungsmodell vorgenommen werden. So wird die Möglichkeit gegeben die operativen Mitarbeiter in den Planungsprozess mit einzubinden und diese den eigenen Arbeitsplatz gestalten zu lassen. Dies hat den Vorteil, dass die Mitarbeiter eine entsprechende Wertschätzung erfahren, motivierter sind und vor allen Dingen wird auf ihre oft langjährige Erfahrung im entsprechenden Arbeitsgebiet zurückgegriffen.
Abbildung 2 zeigt einen solchen Arbeitsplatz, wie er exemplarisch zu Demonstrationszwecken durch das Fraunhofer IML und die TU Dortmund erstellt wurde. Hier hat der Anwender die Möglichkeit seinen Arbeitsplatz individuell zu gestalten, wie zum Beispiel Drucker, Scanner oder Palette nach seinen Vorlieben zu verschieben. Im Anschluss ist es möglich, neben dem Arbeitsplatz, auch die Arbeitsprozesse zu testen. Eine geänderte Abfolge der Prozessschritte kann zusätzlich die Leistung sowie die kognitive und die physische Ergonomie erhöhen. Durch mehrere Iterationsschritte kann relativ aufwandsarm die beste Lösung gefunden werden.
Versuche am physisch erlebbaren Modell
Als Anschluss bzw. Ergänzung zum Digital Cardboard Engineering können weiterführende Experimente am physisch erlebbaren Modell durchgeführt werden. Hierbei sollen verschiedene Parameter empirisch erfasst werden, bspw. Ergonomie- und Leistungskennzahlen. In der Praxis werden hierzu die Ergebnisse aus dem Cardboard Engineering in die Konstruktion von Arbeitsplätzen transferiert und anschließend wird der Arbeitsplatz dementsprechend aufgebaut. Erst dann können aufwendige Verfahren die Leistungs- und Ergonomiedaten erfassen und die Arbeitsplätze durch verschiedene Anpassungen verbessern. Durch die Kopplung von VR mit einem Motion Capturing-System kann dieser Prozess deutlich vereinfacht werden. So können mit den Ergebnissen des Digital Cardboard Engineering Versuche am „physisch erlebbaren Modell“ durchgeführt werden. Die Leistungen des Arbeitsplatzes können durch die Anwendung erfasst werden und die Ergonomie über das Motion Capturing-System empirisch belegt werden. Abbildung 3 zeigt einen entsprechenden Aufbau inklusive der Repräsentation im Modell. Am Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen FLW der TU Dortmund, befindet sich mit 300 m² eine der größten Installationen eines solchen Systems in Europa. Durch die präzisen Aufnahmen, können durch Auswertung der Winkelbeziehungen unergonomische Belastungen erkannt und durch Anpassung der Arbeitsplätze eliminiert werden.
Diese Versuche können bereits in einer frühen Phase der Planung durchgeführt werden, sodass die später realisierten Arbeitsplätze bereits im Vorfeld optimiert sind. Die gewonnenen Leistungsdaten können zusätzlich für die Dimensionierung des Materialflusssystems genutzt werden. Hierdurch kann präzise die benötigte Anzahl von Arbeitsplätzen kalkuliert werden und die Daten können als empirisch abgesicherte Eingabeparameter für Simulationsmodelle genutzt werden. Dies reduziert die Planungsunschärfe, die heutzutage noch vielfach in der Planung durch Erfahrungswerte versucht wird auszugleichen.
Die Motion Capturing-Anlage befähigt zusätzlich dazu reale Objekte in die VR-Welt einzubinden. Wichtige Faktoren für die Ergonomie, wie bspw. Gewichte, können somit in die Betrachtung einbezogen werden. Daneben sind mit der Anlage Multiplayer-Anwendungen realisierbar. Dazu können mehrere Personen zusammen in einer VR-Anwendung Aufgaben bearbeiten und somit Prozesse simulieren, in denen mehrere Personen involviert sind.
Serious Games zum Anlernen der Mitarbeiter
Die virtuell erstellte Umgebung inklusive der implementierten Prozesse kann weitergehend für den Anlernprozess bestehender oder neuer Mitarbeiter genutzt werden. Durch die immersive VR-Anwendung muss der Mitarbeiter die einzelnen Arbeitsschritte aktiv durchführen und eignet sich somit ein besseres Prozessverständnis an. Dabei werden die einzelnen Arbeitsschritte dem Mitarbeiter über das Headset per Audioansage vermittelt. Die Ansagen sind dabei computergeneriert, was eine einfache Übersetzung möglich macht. So ist es relativ aufwandsarm eine Anwendung in vielen verschiedenen Sprachen anzubieten, was besonders Mitarbeitern hilft, deren Deutschkenntnisse nicht hinreichend gut sind.
Zusätzlich können Fehlersituationen nachgestellt werden und die Mitarbeiter für Qualitätsanforderungen sensibilisiert werden. Durch die Einbindung von Spieleelementen, wie bspw. Punkte oder Level, wird die Anwendung zu einem Serious Game. Entgegen oft ermüdenden Frontalunterricht in Schulungen, werden die Mitarbeiter durch intrinsische Motivationsanreize in den VR-Schulungen motiviert. Ein entsprechendes Serious Game wurde bereits am Fraunhofer IML und an der TU Dortmund für einen Anwendungspartner entwickelt. In anschließenden Evaluierungsstudien konnte eine Reduzierung der Anlernzeit um ca. ein Drittel festgestellt werden. Die Qualität der Schulung kann noch gesteigert werden, wenn didaktische Prinzipien in die Konzeption mit einbezogen werden. Noch sind VR-Anwendungen für die Schulung vergleichsweise teuer, lohnen sich aber besonders dann, wenn die Arbeitsprozesse hinreichend komplex sind und zugleich relativ viele Personen die Schulung durchlaufen. Dennoch werden diese Kosten mit jedem zusätzlichen Projekt in Zukunft sinken.
Betrachtet man die rasante Entwicklung von VR in den letzten Jahren und die ständig neuen Anwendungsgebiete, so ist diese Entwicklung sicherlich noch lange nicht am Ende. Im Zuge von unterschiedlichen Projekten werden durch das Fraunhofer IML und die TU Dortmund ständig neue Erkenntnisse und Anwendungsfelder erschlossen. Hierzu zählen insb. die biointelligente Logistik, bei der Prinzipien der Natur auf die Logistik übertragen werden. Dies beinhaltet auch eine Selbststeuerung der Systeme und der starken Verknüpfung von Mensch und Maschine. Durch VR und z. T. auch in Kombination mit Augmented Reality (AR), ist das ideale Testbed für die Entwicklungen gegeben. Eine Überführung in den Live-Betrieb wird ebenfalls möglich sein. Die VR-Anwendung kann mit Echtzeitdaten gespeist werden und Ergebnisse von Simulationen für den Anwender plakativ sichtbar machen. Dies führt zu einer zukünftigen virtuellen Produktion.
Autoren:
André Terharen
Lehrstuhl für Förder- und Lagerwesen FLW
TU Dortmund
Moritz Wernecke
Intralogistik und –IT Planung
Fraunhofer IML, Dortmund