Dr. Marcus John, Dr. Ramona Langner, Dr. Diana Freudendahl
Die Entwicklung neuer Werkstoffe sowie deren kontinuierliche Verbesserung ist ein essentieller Treiber von Innovationen. Obwohl der Mensch letztlich über eine jahrtausendealte Erfahrung verfügt, Werkstoffe wie Stein, Bronze oder Eisen nach seinen Vorstellungen zu modifizieren, benötigt man auch heutzutage noch zwischen 15 und 20 Jahren, bis ein neuer Werkstoff am Markt erfolgreich ist. Das Problem liegt schon allein in der großen Anzahl potentieller Werkstoffe begründet, die aus den über 100 bekannten Elementen gebildet werden können. Um diesen riesigen Raum kombinatorischer Möglichkeiten effizienter durchsuchen zu können, rücken zunehmend computerbasierte Methoden in den Fokus, da diese den Prozess der Materialentwicklung erheblich beschleunigen und preisgünstiger machen könnten. Im Rahmen des sogenannten computerbasierten Hochdurchsatzscreenings werden quantenmechanische Simulationsverfahren mit Methoden des Data Mining verknüpft. Solche Verfahren werden es in Zukunft erlauben, neue Werkstoffe zu entwerfen.
Der Prozess der Materialentwicklung setzt immer noch auf Versuch und Irrtum: Bereits bekannte Verbindungen, welche eine gewünschte Materialeigenschaft aufweisen, werden verändert und anschließend aufwändig im Labor charakterisiert. Stellt sich dabei heraus, dass einer dieser neuen Werkstoffe bessere Eigenschaften besitzt, so dient dieser als Ausgangspunkt für die weitere Suche. Da es hierbei notwendig ist, neue Werkstoffe zu synthetisieren und anschließend zu charakterisieren, ist dieses evolutionäre Vorgehen umständlich und zeitaufwändig. Zudem ist die Suche meist auf einen relativ eng begrenzten Bereich aller möglichen Verbindungen einschränkt, so dass vielversprechende Kandidaten übersehen werden könnten.
An diesem Punkt setzt das computerbasierte Hochdurchsatzscreening an, indem es die beiden besonders aufwändigen Prozessschritte – die Synthese und die Charakterisierung eines Werkstoffs – in den Computer verlagert, sie also in-silico durchführt. Dafür werden in einem ersten Schritt Kristallstrukturen generiert, die analysiert werden sollen. Hierfür greift man auf umfangreiche Datenbanken zurück, welche die notwendigen Strukturangaben von einigen 10.000 Festkörpern enthalten. Die Auswahl an Startstrukturen kann beispielsweise auf Legierungen eines bestimmten Typs beschränkt werden. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, spezifische Elemente in bestimmten Verbindungen systematisch durch andere Elemente zu ersetzen. Auf diese Weise werden einige tausend Strukturen erzeugt, deren Materialeigenschaften in einem zweiten Schritt mittels adäquater Simulationsverfahren berechnet werden.
Für diese Berechnungen ist die sogenannte Dichte-Funktional-Theorie (DFT) die Methode der Wahl. Sie berücksichtigt einzig und allein die atomistische Struktur der Materie und die Wechselwirkung der Atome untereinander und kommt ohne experimentell bestimmte Parameter aus. DFT-Verfahren haben gegenüber anderen quantenmechanischen Ansätzen, den Vorteil, dass sie die physikalischen oder chemischen Eigenschaften eines Festkörpers mit hinreichender Genauigkeit berechnen können, die dafür benötigte Rechenleistung im Vergleich aber relativ gering ist. So ist es möglich, eine große Anzahl von Rechnungen in akzeptabler Zeit durchzuführen. Entsprechend können sie als das Standardverfahren der computerbasierten Werkstoffentwicklung angesehen werden, das jedoch vor zwei Herausforderungen steht. Zum einen müssen die Prozesse soweit automatisiert werden, dass notwendige Eingriffe durch den Nutzer auf ein Minimum beschränkt werden. Zum anderen können die Genauigkeit und die Geschwindigkeit von DFT-Rechnungen nach wie vor weiter verbessert werden. Im Rahmen konkreter Anwendungen ist es stets notwendig, einen geeigneten Kompromiss zwischen der Genauigkeit und der Geschwindigkeit der Berechnungen zu finden, um einen möglichst großen Suchraum abdecken zu können.
Die im Rahmen dieser Rechnungen erzeugten Daten müssen nun für die weitere Verarbeitung im Rahmen des Hochdurchsatzscreenings aufbereitet werden. Dabei kommen Methoden aus dem Bereich des Data Minings und des maschinellen Lernens zum Einsatz, um aus den gewonnenen großen Datenmengen neues Wissen über die untersuchten Werkstoffe zu generieren. Dieser Schritt hängt sehr stark von der untersuchten Fragestellung ab und ist zentraler Gegenstand der Forschung auf dem Gebiet des Hochdurchsatzscreenings. Zentrale Aufgabe dieser Phase ist es, die atomare und elektronische Struktur eines Werkstoffs, die mittels der DFT-Methoden im vorhergehenden Schritt berechnet wurden, mit dessen makroskopischen Eigenschaften zu verknüpfen. Diese Struktur-Eigenschaft-Beziehungen können mittels statistischer Ansätze bestimmt werden.
Auf diese Weise wird die potenziell große Anzahl an Werkstoffen auf ein Maß reduziert, welches anschließend durch experimentelle Methoden weiter untersucht werden kann. Im Fokus stehen hierbei konkrete Anwendungen, weshalb sich das Verfahren auf Eigenschaften konzentriert, die von technologischer Relevanz sind, wie beispielsweise die Entwicklung neuer Werkstoffe für die Energieerzeugung oder die Energiespeicherung.
Letzteres war die Motivation für eine der ersten erfolgreichen Anwendungen des computerbasierten Hochdurchsatzscreenings. Dabei ging es um die Entwicklung neuer Materialien, sogenannter Polyanionen (wie z.B. das neu entdeckte Li3Mn(CO3)(PO4)) für Lithium-Ionen-Akkus. Ein weiteres wichtiges Beispiel betrifft die Entwicklung spezieller Metalloxide für photoelektrochemische Zellen, bei denen die Energie des Sonnenlichts für die Elektrolyse von Wasser genutzt wird. Hierfür werden Halbleitermaterialien mit einer geeigneten Bandlücke benötigt. Ausgangspunkt für die Untersuchung bildeten in diesem Fall insgesamt etwa 5.400 verschiedene Perowskit-Kristallstrukturen, welche mittels des Hochdurchsatzscreenings untersucht wurden. Basierend auf einem passenden Screeningverfahren konnten am Ende 15 verschiedene Verbindungen identifiziert werden, die sich besonders für die Generierung von Wasserstoff eignen.
Ein weiteres Anwendungsbeispiel betrifft die Suche nach neuen zweidimensionalen Werkstoffen. Diese Materialklasse ist in den letzten Jahren für viele interessante Anwendungen in den Fokus gerückt. In einem umfassenden Screening konnten aus mehr als 100.000 Strukturdaten zunächst etwa 5.600 Verbindungen identifiziert werden, die eine schichtartige Struktur aufweisen. Mittels DFT-Rechnungen wurde diese Menge in einem weiteren Schritt auf knapp 1.000 Werkstoffe eingeschränkt, welche leicht mittels Exfoliation hergestellt werden können. Diese können nun hinsichtlich ihrer mechanischen oder elektronischen Eigenschaften weiter charakterisiert werden, um so eine gezielte Auswahl für spezifische Anwendungen zu ermöglichen. Die entsprechenden Datenbanken mit den berechneten Werkstoffeigenschaften bilden ein zunehmend wichtigeres Standbein für die Materialentwicklung.
Das computerbasierte Hochdurchsatzscreening entwickelt sich verstärkt zu einem wichtigen Ansatz im Rahmen der Werkstoffentwicklung. Für die Zukunft verspricht die Methode eine signifikante Beschleunigung des Innovationsprozesses in diesem Bereich.
Fraunhofer Institut für
Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen
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