Neuartige Werkstoffe sind der Schlüssel für die Transformation zu einer nachhaltigeren Wirtschaft. Die Suche nach neuen Werkstoffen, die die Anforderungen einer spezifischen Technologie erfüllen, sowie deren Design sind allerdings zeit- und kostenintensiv. Insbesondere bei Hochentropie-Legierungen, die aus festen Lösungen mehrerer Hauptelemente bestehen, wird die Anzahl möglicher Kombinationen so groß, dass nicht mehr mit Methoden von Versuch und Irrtum gearbeitet werden kann. Ein internationales Forschungsteam hat nun ein Framework für aktives maschinelles Lernen in einem geschlossenen Regelkreis entwickelt, dass die experimentelle Effizienz bei der Identifizierung neuer Legierungen mit gewünschten Eigenschaften um Größenordnungen verbessert und so Zeit und Geld spart.
Das Framework wurde erfolgreich bei der Entdeckung neuer Invar-Legierungen angewendet, die beim Transport von flüssigem Wasserstoff, Ammoniak und Erdgas zum Einsatz kommen. Ein solches Framework kann zudem universell zur Optimierung weiterer Struktur- und Funktionswerkstoffe angewendet werden. Das Forschungsteam unter Leitung von Wissenschaftlern des Max-Planck-Instituts für Eisenforschung (MPIE) hat seine neuesten Ergebnisse nun in der Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht.
„Wenn wir nur die am häufigsten genutzten Elemente im Periodensystem in Betracht ziehen, dann ergeben sie 1050 mögliche Legierungsvarianten – eine Zahl, die jeden experimentellen Ansatz übersteigt. Deshalb haben wir ein auf probabilistischen Modellen und künstlichen neuronalen Netzen basierendes Framework für aktives Lernen verwendet“, erklärt Dr. Ziyuan Rao, der als Postdoc am MPIE forscht und Erstautor der Veröffentlichung ist. Das Forschungsteam vom MPIE, der Technischen Universität Darmstadt, der Delft University of Technology (Niederlande) und des KTH Royal Institute of Technology (Schweden) hat nach Invar-Legierungen mit speziellen Wärmeausdehnungseigenschaften gesucht.
Diese Legierungen bestehen aus Eisen und Nickel und dehnen sich nicht aus bzw. ziehen sich nicht zusammen, wenn sich die Temperatur ändert. Ihr idealer Einsatzbereich sind Behälter zur Speicherung von Gasen bei Temperaturen zwischen -160 °C und Raumtemperatur. „Invar-Legierungen vorherzusagen ist rechnerisch ein sehr anspruchsvolles Problem. Man muss dazu mit dem heiklen Wechselspiel von Magnetismus und Gitterschwingungen umgehen können, die sich beide auf die thermische Ausdehnung auswirken. Die Entdeckung neuer Invar-Legierungen ist deshalb ein hervorragender Proof of Concept, d.h. ein Machbarkeitsnachweis für unseren Rechen-Input ebenso wie für das entwickelte Framework für aktives Lernen“, sagt Dr. Fritz Körmann, Forschungsgruppenleiter an der Universität Delft sowie am MPIE und Mitautor der Publikation.
Das von den Wissenschaftlern entwickelte Framework für aktives Lernen umfasst drei grundlegende Schritte. Zuerst werden vielversprechende Legierungszusammensetzungen auf Basis eines tiefen generativen Modells gefunden, das unüberwachtes Lernen mit zufälligen (stochastischen) Stichproben kombiniert.
Im nächsten Schritt werden diese Zusammensetzungen mithilfe eines zweistufigen, mit Ensemble-Methoden arbeitenden Regressionsmodells überprüft, nach dem etwa 20 vorgeschlagene Zusammensetzungen übrigbleiben. Von diesen Zusammensetzungen wird eine Rangfolge ermittelt, und die drei besten Kandidaten werden experimentell verarbeitet und charakterisiert. „Wir führen die Surrogatmodell-Vorhersagen, die theoretischen Berechnungen und die experimentelle Validierung in einem als geschlossener Regelkreis konzipierten Framework zusammen, und in nur sechs Iterationen haben wir erfolgreich zwei finale neuartige Invar-Legierungen mit verbesserten thermischen Ausdehnungskoeffizienten identifiziert“, sagt Prof. Hongbin Zhang, Theorie magnetischer Materialien, an der Technischen Universität Darmstadt und Mitautor der Publikation.
„Modelle für maschinelles Lernen haben ganz erstaunliche Erfolge erzielt, wenn praktisch unbegrenzte Datenmengen verfügbar sind, beispielsweise bei Videospielen oder wenn sie an fast einem Drittel der im Internet vorhandenen Inhalte trainiert werden. Viel schwieriger ist es dagegen, Anwendungsfälle zu finden, bei denen künstliche Intelligenz einen Unterschied in der realen Welt ausgemacht hat. Es ist sehr spannend, dass die Vorhersagen nicht nur in der Simulation getestet wurden, sondern dass neue Legierungen physisch hergestellt und geprüft wurden“, sagt Prof. Stefan Bauer vom KTH Royal Institute of Technology und Experte für maschinelles Lernen.
Die Wissenschaftler werden sich nun schwerpunktmäßig mit magnetischen Materialien und Magnetismus in Verbindung mit CRC/TRR 270 HoMMage beschäftigen, wie Prof. Oliver Gutfleisch, Funktionale Materialien, TU Darmstadt, erklärt, und die dazu nötigen Framework-Schritte entwickeln.
Weitere Informationen: https://www.science.org/doi/10.1126/science.abo4940