Dr. Heike Brandt, Dr. Diana Freudendahl, Dr. Ramona Langner
Der zunehmende Bedarf an Miniaturisierung und Gewichtseinsparung führt dazu, dass die Anforderungen an Werkstoffe steigen und darüber hinaus immer häufiger auch zusätzliche Funktionalitäten übernommen werden sollen. Dies kann oft nicht von einem Werkstoff alleine erfüllt werden und unterschiedlichste Polymere, Metalle und Keramiken werden innerhalb der einzelnen Werkstoffklassen oder aber Werkstoffklassen-übergreifend kombiniert. In vielen Fällen weisen solche homogenen Komposite jedoch abrupte Eigenschaftsübergänge auf, die speziell bei starker mechanischer oder thermischer Belastung Schwachstellen darstellen können. Das Konzept der Gradientenwerkstoffe mit kontinuierlichen Eigenschaftsübergängen wurde Mitte der 1980er-Jahre in Japan geprägt, indem sie nicht nur theoretisch beschrieben, sondern als Barriere für extreme thermische Spannungen, wie sie in der Raumfahrt auftreten, herangezogen wurden.
Die Nutzung von Gradientenwerkstoffen beschränkte sich lange auf gradierte Oberflächen, während Massivwerkstoffe herstellungstechnisch schnell an ihre Grenzen stießen. Global gesehen ist seit 2008 eine erhöhte universitäre Forschungsdynamik an Materialien mit einem kontinuierlichen räumlichen Verlauf der chemischen Zusammensetzung, der Anteile einzelner Kompositbestandteile oder aber des strukturellen Aufbaus (z. B. Mikrostruktur oder Poren) im dreidimensionalen Raum zu beobachten. Mit der Variation dieser Parameter können die thermischen, mechanischen, elektrischen, optischen, magnetischen oder biologischen Eigenschaften des Werkstoffs beeinflusst werden. Innerhalb eines dreidimensionalen Werkstücks könnten mit Gradierungen spezielle Eigenschaften exakt an der Stelle des Bedarfs zu Verfügung gestellt werden. Dies entspricht dem generellen Trend der bedarfsgerechten Fertigung.
Der Fokus liegt inzwischen vermehrt auf Strukturwerkstoffen zur Nutzung bei sehr hohen Betriebstemperaturen, z. B. in Kraftwerken. Im Bereich der Energieerzeugung könnten Gradientenwerkstoffe darüber hinaus auch für Solarzellen und thermoelektrische Generatoren eingesetzt werden. Da die Ausbreitung von Wellen stark von Grenzflächen beeinflusst wird, können Gradientenwerkstoffe beispielsweise in der Luftfahrt wirkungsvoll zur Dämpfung von Schall oder Vibrationen eingesetzt werden. Weitere Aspekte im Bereich der Luftfahrt und auch der Automobilindustrie stellen der Leichtbau sowie das Crash-Verhalten der Materialien dar. Das Gebiet der Kommunikation könnte ebenfalls von gradierten Werkstoffen profitieren, z. B. durch die Nutzung entsprechender Wellenleiter und Linsen in der optischen Kommunikation. Hinsichtlich der Zustandsüberwachung von Bauteilen könnten Gradientenwerkstoffe unabhängig von der Form des Bauteils als Grundlage für Verschleißindikatoren dienen. Medizinprodukte könnten von einer maßgeschneiderten Anpassung an die zu erwartenden Belastungen und das umgebende Material profitieren.
Am weitesten vorangeschritten sind gradierte Massivwerkstoffe im Bereich der polymerbasierten Systeme. Der Zusatz von Additiven ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Treiber, beispielsweise sollen sich modifizierte Additive durch Migration in einer oberflächennahen Schicht anreichern, um einen besseren Ausnutzungsgrad zu erzielen. Dazu werden Wirksubstanzen, z. B. UV-Absorber zur Lichtstabilisierung, chemisch sowohl an Molekülstrukturen mit geringer als auch mit hoher Polymeraffinität gekoppelt. Somit besteht das neue Additiv aus einer Migrationskomponente und enthält eine Ankerfunktion. Die präzise Einstellung von dreidimensionalen Verläufen ist technisch aufwendig. Aus diesem Grund profitiert die Gradierung von massiven Werkstoffen in hohem Maße von der dynamischen Entwicklung der additiven Fertigung. Verfahren, bei denen lokal im Mikrometerbereich Ausgangsmaterialien verfestigt werden, sind für die Gradierung von Werkstoffen prädestiniert. Durch die Kombination von mischbaren Polymeren konnten bereits erste abrupte, aber bewegliche Hart-Weich-Übergänge gedruckt werden. Somit können beispielsweise scharnierartige Funktionen von einem Bauteil übernommen werden. Ein gradierter Übergang von einem harten Bereich zu einem weichen könnte die Lastverteilung bei mechanischer Beanspruchung aber noch signifikant verbessern.
Je nach Materialsystem werden in aktuellen Forschungsarbeiten zu Gradientenwerkstoffen vorwiegend zwei Strategien verfolgt. So können Gradienten durch eine gezielte Variation des Mischungsverhältnisses der pulverförmigen Ausgangsmaterialien während der additiven Fertigung erzielt werden. Abhängig von der Anzahl der Zuführsysteme für diese Ausgangsmaterialien, aber auch der Präzision bei ihrer Steuerung, sind unterschiedlichste Materialgradienten, wie
z. B. Wolframcarbid in einer Stahlmatrix oder Graphen in einer Polymermatrix, denkbar. Bei Legierungen kann darüber hinaus eine Gradierung der Mikrostruktur durch Variation der Prozessparameter erreicht werden. So ist beispielsweise die Härte eines Stahls oder einer Nickelbasislegierung von der erzeugten Mikrostruktur abhängig, die mit Hilfe der gewählten Leistung des zur Aufschmelzung verwendeten Lasersystems eingestellt werden kann. Darüber hinaus werden additive Fertigungsverfahren zukünftig die Möglichkeit bieten, Erkenntnisse aus der Nutzung simulationsbasierter Verfahren zur Entwicklung neuartiger Werkstoffe und zur Optimierung von Multimaterialkombinationen einfließen zu lassen. Deren Einfluss auf die Entwicklungsdynamik von Werkstoffen wird zunehmend wichtiger.
Keramische Komponenten werden aufgrund ihrer besonderen thermischen Eigenschaften oft als thermische Barriere genutzt und mit Metallen kombiniert, die über eine hohe Zugfestigkeit und Zähigkeit verfügen. Unterschiedliche Ausdehnungskoeffizienten bereiten jedoch im fertigen, nicht gradierten Werkstück und bei der Herstellung von Gradienten Schwierigkeiten. Für die Herstellung von Gradienten mit keramischen Komponenten wird zunächst das Profil des gradierten Verlaufs aus den pulverförmigen Bestandteilen in Form eines Grünkörpers vorgegeben. Die Verfestigung zum belastbaren Bauteil wird in einem nachfolgenden Sinterprozess sichergestellt. Eine Herausforderung besteht darin, die keramikreichen Bereiche zu verfestigen, ohne die metallischen Bestandteile aufzuschmelzen. Zu diesem Zweck wird beispielsweise das in der aktuellen Literatur für Metall-Keramik-Komposite bevorzugte Spark-Plasma-Sintering-Verfahren modifiziert. Graduelle Übergänge zwischen Metallen und Keramiken befinden sich daher größtenteils noch in der industrienahen Grundlagenforschung und könnten zukünftig zu den Forschungs- und Entwicklungsschwerpunkten zählen.
Für eine Vielzahl neuer Konzepte im Bereich der Werkstoffentwicklung, die unter dem Materials-by-Design-Ansatz zusammengefasst werden, sind Gradienten in Werkstoffen von grundlegender Bedeutung. Dabei werden die strukturellen Merkmale eines Werkstoffs von einer gewünschten Funktionalität und Anwendung ausgehend gezielt entworfen und somit die Vorgehensweise der traditionellen Werkstoffentwicklung umgekehrt. Vorbilder sind häufig in der Natur vorkommende dreidimensionale Gradientenwerkstoffe, die eine geforderte Funktionalität unabhängig von der Bauteilgeometrie exakt an der gewünschten Stelle des Bauelements liefern können.
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