Abstract
Erhöhte Siliziumgehalte in Gusseisen mit Kugelgraphit führen zu hervorragenden Kombinationen aus statischer Festigkeit und Bruchdehnung. Allerdings ist die Kerbschlagzähigkeit von hochsiliziumhaltigem Gusseisen mit Kugelgraphit als besonders nachteilig zu beurteilen. Die im Kerbschlagbiegeversuch vielfach verwendete Charpy-V-Probe ist durch einen äußerst spezifischen und komplexen Spannungszustand gekennzeichnet. Das Zähigkeitsverhalten dieser Werkstoffe unter bauteilnaher Beanspruchung kann auf diese Weise nicht abgebildet werden. Dies führt in entsprechenden Auslegungs- und Zertifizierungsprozessen, bei denen eine Werkstoffqualifizierung in der Regel durch den Kerbschlagbiegeversuch erfolgt, häufig zu einer Unterschätzung des Werkstoffpotentials. Eine effiziente und zuverlässige Auslegung von Gussbauteilen wird somit erheblich behindert oder gar unterdrückt. In einem aktuellen Forschungsprojekt an der RWTH Aachen wird daher sowohl die Dehnratensensitivität als auch die Abhängigkeit der gemessenen Zähigkeitswerte vom Spannungszustand systematisch untersucht.
Keywords
Gusseisen mit Kugelgraphit, Schädigungsmechanik, Zähigkeit, Dehnratensensitivität, Kerbschlagbiegeversuch, Schlagzugversuch
Einleitung
Der Kerbschlagbiegeversuch nach Charpy ist aufgrund seiner geringen Kosten und einfachen Umsetzbarkeit die industriell bevorzugte Prüfmethode zur Bestimmung der Zähigkeitseigenschaften [1]. Eine erfolgreiche Qualifizierung von Gusskomponenten aus Gusseisen mit Kugelgraphit (GJS) für Windenergie- oder Automobilanwendungen über den Kerbschlagbiegeversuch mit Charpy-V-Proben ist für eine Vielzahl von Anwendungen aufgrund von unzureichenden Kerbschlagarbeitswerten oftmals allerdings nicht möglich. Die niedrigen gemessenen Werte im Kerbschlagbiegeversuch sind dabei im Wesentlichen auf die äußerst komplexe Beanspruchungssituation während des Versuchs zurückzuführen. So wird die Probe zunächst mit einer hohen Dehnrate im Bereich von 1 – 4·103 s-1 belastet und gleichzeitig mit einer stark ausgeprägten Spannungsmehrachsigkeit, als Maß für die lokal wirkende Materialbelastung, von etwa η ≈ 1,6 im Kerbgrund der Charpy-Probe beaufschlagt. In Fällen, in denen eine Werkstoffqualifizierung über den Kerbschlagbiegeversuch nicht möglich ist, bleibt daher nur der Umweg über individuelle Qualifizierungen, die beispielsweise auf entsprechenden bruchmechanischen Festigkeitsnachweisen wie z. B. FKM-Richtlinien beruhen, jedoch zeit- und kostenintensiv sind [2].
Untersuchungen am Werkstoff EN-GJS-400-18LT, der üblicherweise in Windenergie-Anwendungen zum Einsatz kommt, haben gezeigt, dass in quasistatischen bruchmechanischen Versuchen duktiles Bruchverhalten in der Hochlage bereits ab -50 °C zu beobachten ist. In hochdynamischen Charpy-Tests hingegen tritt duktiles Bruchverhalten erst ab 0 °C auf [3]. Als Grund für die deutlich höhere Übergangstemperatur DBTT („ductile-to-brittle transition temperature“) im Kerbschlagbiegeversuch, die durch Halbierung der jeweiligen Hochlagenenergie bestimmt wurde, wird zum einen die ausgeprägte Dehnratenempfindlichkeit von GJS-Werkstoffen vermutet, die durch eine zunehmende Verfestigung des Werkstoffes mit steigender Dehnrate hervorgerufen wird, vgl. Abbildung 1. Zum anderen hat auch der in der jeweiligen Probe herrschende lokale Spannungszustand wesentlichen Einfluss auf die resultierende Schlagzähigkeit. Im sogenannten Schlagzugversuch, der ursprünglich aus der Kunststoffprüfung stammt [4], kann durch eine Adaption des Versuchs der Spannungszustand in der Probengeometrie gezielt eingestellt werden. Im Folgenden wird zur Beschreibung des Spannungszustands eine Formulierung aus den Größen Spannungsmehrachsigkeit h, welche das Verhältnis aus hydrostatischer und von Mises-Vergleichsspannung beschreibt, und Lodewinkel q, der aus den Invarianten des deviatorischen Spannungstensors abgeleitet werden kann, verwendet. Wie der Kerbschlagbiegeversuch wird auch der Schlagzugversuch in einem Pendelschlagwerk durchgeführt und bietet daher eine ähnlich einfache und zeitsparende Handhabung. Durch die Entwicklung von Probengeometrien mit bauteilrelevant eingestellten Spannungszuständen wird eine systematische Untersuchung des Spannungszustandseinflusses auf das Übergangsverhalten von GJS-Werkstoffen ermöglicht. Erste erfolgreiche Untersuchungen zur Anwendung des Schlagzugversuchs zur Charakterisierung von Stahlfeinblechen belegen die Eignung dieses alternativen Prüfverfahrens für metallische eisenbasierte Werkstoffe [5].Projektinhalte
Im von der AiF geförderten Forschungsprojekt „Schädigungsmechanik von mischkristallverfestigtem Gusseisen mit Kugelgraphit“ wurden zunächst umfassende Untersuchungen zum Übergangsverhalten durchgeführt. Dazu wurden insgesamt drei verschiedene GJS-Werkstoffe im quasistatischen Bruchmechanik- und im hochdynamischen Kerbschlagversuch geprüft. Die drei Werkstoffe unterschieden sich hauptsächlich in ihrem Siliziumgehalt, wobei Gehalte von 2,10 Gew.-%, 3,03 Gew.-% und 3,64 Gew.-% Si eingestellt wurden. Die Probenentnahme erfolgte aus Y2-Standardprobekörpern nach [6], was einer Wandstärke von 25 mm entspricht. Die gegenübergestellten Ergebnisse aus diesen Werkstoffprüfungen sind in Abbildung 2 dargestellt. Die Übergangstemperaturen wurden durch die Halbierung der in der Hochlage ermittelten Energiewerte bestimmt. Unabhängig von der betrachteten Werkstoffsorte betragen die Differenzen der Übergangstemperaturen zwischen 100 und 140 K und bestätigen somit die in den Voruntersuchungen gemachten Beobachtungen.Um die Dehnratensensitivität der GJS-Werkstoffe zu prüfen, wurden die Untersuchungswerkstoffe weiterhin in quasistatischen und dynamischen Zugversuchen bei Dehnraten von 1 s-1, 100 s-1 und
250 s-1 analysiert. Aus den in Tabelle 1 dargestellten Ergebnissen wird deutlich, dass die Zugfestigkeit Rm bei Siliziumgehalten von 2,10 und 3,03 Gew.-% ab Dehnraten von 100 s-1 stark ansteigt. Bei höheren Siliziumgehalten nimmt die Zugfestigkeit bereits bei Dehnraten von
1 s-1 signifikant zu. Die Zunahme der Dehngrenze Rp0,2 mit steigender Dehnrate ist im Vergleich zur Zugfestigkeit als erheblich stärker einzustufen und beträgt zwischen 48 und 55 % gegenüber quasistatischer Belastung. Metallphysikalisch ist die mit steigender Dehnrate zunehmende Verfestigung in der gleichzeitigen Aktivierung von Versetzungsbewegungen begründet [7]. Aufgrund der in die Matrix eingelagerten Graphitkugeln wird die Versetzungsbewegung in GJS im Vergleich zu Stählen allerdings erheblich stärker behindert.
Wie Abbildung 3 zeigt, kann eine signifikante Korrelation zwischen der aus Bruchmechanik- und Kerbschlagbiegeversuchen ermittelten Übergangstemperaturdifferenz und der aus Tabelle 1 berechneten Dehnratensensitivität DRS bestimmt werden. Hierbei bezeichnet DRS das Verhältnis aus Festigkeit bei jeweiliger Dehnrate und einer Referenzfestigkeit bei quasistatischer Belastung. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die ausgeprägte Dehnratensensitivität von GJS-Werkstoffen maßgeblich zu den vergleichsweise geringen Energien im hochdynamischen Kerbschlagbiegeversuch beiträgt. In dieser Versuchsmethodik werden durch die hohe Dehnrate und der stark ausgeprägten Spannungsmehrachsigkeit zwei für den Werkstoff besonders nachteilige Effekte miteinander kombiniert, wobei die Aussagekraft für in der Praxis auftretende Belastungssituationen fraglich ist. Zur Ausschöpfung des für die Anwendung relevanten Werkstoffpotentials soll daher im Folgenden der Schlagzugversuch eingesetzt werden.
Zur Einbeziehung des lokalen Spannungszustandes auf das Übergangsverhalten von GJS-Werkstoffen wurde der Schlagzugversuch im genannten Projekt erstmalig für Gusseisenwerkstoffe erprobt. In diesen Prüfungen erfolgte zunächst die Ermittlung der Schlagzugzähigkeit für eine Standardgeometrie, welche in Abbildung 4 abgebildet ist, an einem EN-GJS-500-14 mit 3,7 Gew.-% Silizium. Die doppelseitig V-gekerbte Probengeometrie mit einer Dicke von 1,5 mm weist im Vergleich zur Charpy-V-Probe einen Spannungszustand mit geringerer Spannungsmehrachsigkeit von 0,9 auf und erlaubt so eine beanspruchungsgerechtere Prüfung in Bezug auf real auftretende Spannungszustände in Gussbauteilen aus GJS. Aus Abbildung 5 wird ersichtlich, dass sich die in beiden Prüfmethoden ermittelten Übergangstemperaturen mit ca. 100 K deutlich unterscheiden. Ein Einfluss des herrschenden Spannungszustandes auf die resultierende Zähigkeit kann somit analog zu der wirkenden Dehnrate als hauptursächlich für unterschiedliche Ergebnisse in verschiedenen Prüfmethoden gesehen werden.
Zusammenfassung und Ausblick
Die dargestellten Untersuchungen zeigen, dass sowohl die ausgeprägte Dehnratensensitivität als auch der Einfluss des lokalen Spannungszustandes maßgeblich zu den vergleichsweise geringen Zähigkeitswerten von GJS-Werkstoffen im Kerbschlagbiegeversuch beitragen. Eine beanspruchungsgerechte und effiziente Prüfung der Zähigkeit wird so erheblich behindert. Insbesondere der Effekt des Spannungszustandes auf das Übergangsverhalten dieser Werkstoffe soll in weiteren Versuchen untersucht werden. Dazu wird vom Gießerei-Institut und dem Institut für Eisenhüttenkunde der RWTH Aachen aktuell ein Forschungsvorhaben geplant, in dem die erstmalige Erprobung von GJS-Werkstoffen systematisch um weitere Probengeometrien und unterschiedliche GJS-Werkstoffe erweitert wird. Gießereien und Konstrukteure können von diesen Ergebnissen profitieren, da auf diese Weise eine erheblich effizientere und an den jeweils herrschenden Lastfall adaptierte Prüfung der Zähigkeit gewährleistet und letztlich bestehende Anwendungen erweitert sowie neue Anwendungen für Gussbauteile aus GJS erschlossen werden können. Die vorgestellten Ergebnisse stammen aus dem AiF-Projekt 20290 N der „FVG (Forschungsvereinigung Gießereitechnik e.V.)“, das im Rahmen des Verbundprogramms „IGF (Industrielle Gemeinschaftsforschung)“ durch das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie gefördert wurde.
Literaturverzeichnis
1. Deutsches Institut Für Normung E.V. DIN EN 10045: Metallische Werkstoffe – Kerbschlagbiegeversuch nach Charpy – Teil 1: Prüfverfahren. 1990.
2. Forschungskuratorium Maschinenbau (Fkm). Bruchmechanischer Nachweis für Maschinenbauteile. Edtion ed., 2009.
3. S. Münstermann, J. Lian, B. Döbreiner. Die Zähig-
keitscharakterisierung im Kerbschlagbiege- und Bruchmechanikversuch – Über die Ursachen von verschiede-
nen Übergangstemperaturen. Giesserei, 102(5), 30-37 (2015).
4. D. I. F. N. E.V. DIN EN ISO 8256 – Kunststoffe – Bestimmung der Schlagzugzähigkeit. 2005.
5. M. Könemann. Zähigkeit von kaltumformbarem Stahl-
feinblech. RWTH Aachen, 2021.
6. Deutsches Institut Für Normung E.V. Gießereiwesen – Gusseisen mit Kugelgraphit; Deutsche Fassung EN 1563:2011. 2012.
7. A. Bäumer, P. Larour, W. Bleck. Werkstoffkonzepte im Vergleich – Was verursacht die Dehnratenabhängigkeit. In 20. Aachener Stahlkolloquium. Aachen: Wissenschaftsverlag Aachen, 2005, p. 71-80.
Autor:innen:
D. Franzen, A. Bührig-Polaczek
Gießerei-Institut der RWTH Aachen
N. Habibi, M. Könemann, S. Münstermann
Institut für Eisenhüttenkunde der RWTH Aachen