Dr. Ramona Langner, Dr. Heike Brandt, Dr. Diana Freudendahl
Beim maschinellen Lernen (ML), einem Teilgebiet der künstlichen Intelligenz, erlernen Computer anhand von Beispieldaten bestimmte Aufgaben, z. B. ein Objekt auf einem Bild zu erkennen. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, dass das System aber nicht nur aus gegebenen Daten lernen, sondern später auch verallgemeinern können soll, dass also im Anwendungsfall auch bisher unbekannte Daten bewertet werden können. Zum einen lassen sich mit Hilfe maschinellen Lernens große Datenmengen auswerten, weswegen diese Technologie in enger Beziehung zum Konzept Big Data steht. Zum anderen wird als Vorteil gesehen, dass durch die Nutzung von ML auch mit unvollständigem Hintergrundwissen valide Ergebnisse über bisher unerkannte Zusammenhänge in den untersuchten Daten erhalten werden können. Nach den herausragenden Erfolgen von ML-Systemen in anderen Bereichen wie der Bilderkennung und der Verarbeitung von natürlicher Sprache (Natural Language Processing) könnten sie zukünftig auch zu großen Fortschritten im Bereich der Werkstoffentwicklung beitragen. Insbesondere erhofft man sich davon, die Entwicklungszeit neuer Werkstoffe, die zum Teil im Bereich von zehn Jahren oder mehr liegt, deutlich verkürzen zu können, sowie neue Materialien mit bisher unerreichten Eigenschaften entdecken zu können. Realisierbar werden diese neuen Möglichkeiten zur Nutzung von ML nicht nur durch Entwicklungen im Bereich der Softwareentwicklung, sondern auch durch die breitere Verfügbarkeit gut strukturierter und hochqualitativer Datensätze, die sich derzeit im Aufbau befinden oder kontinuierlich erweitert werden.
Als ein Hauptanwendungsgebiet von ML in den Werkstoffwissenschaften wird das Auffinden neuer Werkstoffe gesehen. Hierbei kann man hauptsächlich zwei verschiedene Anwendungsfälle unterscheiden: Zum einen wird, ausgehend von einer gegebenen Kristallstruktur, nach Materialien gesucht, die in dieser thermodynamisch stabil sind. Ein Beispiel für den erfolgreichen Einsatz von ML für solche Anwendungen ist die Identifizierung von 90 möglichen neuen Materialien, die in der Elpasolit-Struktur kristallisieren (Materialien mit der chemischen Zusammensetzung ABC2D6), sowie ihren zugehörigen Phasendiagrammen, ausgehend von zwei Millionen möglichen Kombinationen. Weitere häufig untersuchte Anwendungsfälle waren unter anderem Verbindungen, die Heusler-Phasen bilden, also intermetallische Phasen mit interessanten spintronischen und thermoelektrischen Eigenschaften, sowie Perovskite und hier insbesondere auch langzeitstabile, bleifreie Halogenidperovskite. Zum anderen geht es darum zu bestimmen, in welcher Kristallstruktur ein Material mit einer bestimmten chemischen Zusammensetzung kristallisieren wird. Auch hier wurde ML bereits erfolgreich eingesetzt. Beispielsweise benötigte ein ML-System zur Bestimmung der Mikrostruktur von magnetoelastischen Eisen-Gallium-Legierungen bis zu 80 % weniger Rechenzeit als herkömmliche Berechnungsmethoden, bei gleichzeitig qualitativ hochwertigeren Ergebnissen. Daneben gibt es bereits eine Vielzahl erfolgreicher Studien zu Werkstoffen für besondere Anwendungen. Beispielsweise konnten neue Materialien gefunden werden, mit denen sich die Effizienz einer OLED auf über 22 % steigern ließ.
ML-Systeme eigenen sich zudem hervorragend, um die Eigenschaften noch unbekannter Materialien abzuschätzen, wie beispielsweise das Vorhandensein einer Bandlücke und deren Größe in 2D-Materialien wie MXenen sowie verschiedenen potenziellen neuen anorganischen Halbleitermaterialien. Auch thermoelektrische Werkstoffe, bei denen ein schwieriger Ausgleich zwischen einer niedrigen thermischen Leitfähigkeit einerseits und einer hohen elektrischen Leitfähigkeit andererseits gefunden werden muss, werden mit ML erforscht. Darüber hinaus beschäftigt sich eine Vielzahl von Forschungsarbeiten mit der Bestimmung der mechanischen Eigenschaften von Werkstoffen. Beispielsweise konnten zwei neue ultraharte Materialien identifiziert, synthetisiert und charakterisiert werden. Der Suchraum bestand dabei aus ca. 120.000 potenziellen neuen Materialien. Weitere Forschungsfelder stellen weiterhin Werkstoffe für Energieanwendungen dar, z. B. neue Katalysatoren oder Elektroden sowie Elektrolyte für Lithium-Ionen-Batterien, oder die Einschätzung von Nanomaterialien wie Kohlenstoffnanoröhren oder metallischen Nanopartikeln. Hier gab es nicht nur Studien zur Identifikation der Mikrostruktur oder funktioneller Eigenschaften, sondern auch zur Toxizität solcher Materialien. Zudem beschäftigt man sich mit der Entwicklung universell einsetzbarer ML-Systeme, die auf Basis einer Vielzahl an Elementkombinationen und daraus resultierenden Gitterparametern viele verschiedene Materialeigenschaften abschätzen können sollen.
ML wird darüber hinaus zunehmend eingesetzt, um die Parameter vieler verschiedener Herstellungs- und Syntheseverfahren zu verbessern bzw. neue Verfahren zu entwickeln. Dadurch könnten unter anderem Prozesskosten gesenkt oder Herstellungsverfahren für Materialien mit speziellen Eigenschaften entwickelt werden. In einem vielversprechenden Ansatz wurde etwa ein System vorgestellt, welches in der Lage ist, automatisiert und ohne besonderes Vorwissen die optimalen Synthesebedingungen bestimmter Werkstoffe zu bestimmen. Große Hoffnungen werden aber vor allem darin gesetzt, die Anwendungsfelder additiver Fertigung durch Unterstützung von ML noch weiter vergrößern zu können. Hier kommt es insbesondere im Bereich der Verarbeitung metallischer Werkstoffe immer noch zu Problemen bezüglich der Variabilität – etwa in der Porenverteilung im Material – und Prozessstabilität, was zu Qualitätseinbußen führen kann und die Auswahl verfügbarer Ausgangsmaterialien derzeit noch einschränkt. ML wird hier beispielsweise dafür eingesetzt, die optimalen Prozessparameter zur Verarbeitung von Nickelbasislegierungen zu bestimmen, die als Hochleistungslegierungen unter anderem in Flugzeugturbinen zum Einsatz kommen, sich aber bisher kaum additiv verarbeiten ließen. Das System soll hier unter anderem selbstständig entscheiden können, ob eine gewisse Temperaturabweichung während des Druckprozesses noch tolerierbar ist oder nicht. Ein weiteres wichtiges Forschungsgebiet sind Verformungen der gefertigten Objekte, die unter anderem daraus resultieren, dass sich die Schmelze an verschiedenen Stellen im Bauteil unterschiedlich schnell abkühlt. ML könnte hier dazu beitragen, den zu erwartenden Verzug und die Eigenspannungen eines Bauteils vor der Fertigung zu berechnen und die Fertigungsparameter selbstständig entsprechend anzupassen.
Mit Hilfe von ML neu gefundene oder verbesserte Werkstoffe sind grundsätzlich für eine Vielzahl von Anwendungen interessant. Dies betrifft aber insbesondere jene Anwendungen, in denen zum einen Werkstoffe mit speziellen Eigenschaften zum Einsatz kommen, etwa funktionelle Werkstoffe mit besonderen elektrischen, magnetischen oder optischen Eigenschaften, und zum anderen jene Anwendungen, die etwa aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen derzeit eine besonders hohe Forschungsdynamik aufweisen. Beispiele für solche Anwendungsfelder sind Energietechnik (z. B. neue Hochtemperatursupraleiter, verbesserte Batterien oder Brennstoffzellen), Mobilität (z. B. neue Ultrahochtemperaturwerkstoffe, verbesserte Kompositwerkstoffe) sowie Sensorikanwendungen (z. B. neuartige 2D-Materialien).
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