Künstliche Muskeln

Dr. Diana Freudendahl, Dr. Carsten Heuer, Dr. Ramona Langner

Aktoren, also Antriebselemente, die zumeist elektrische Signale in mechanische Bewegung umwandeln, sind allgegenwärtig. Klassische Beispiele sind pneumatische oder hydraulische Systeme, die sich in ihrem Design am natürlichen Pendant, den Muskeln, orientieren. Materialien und technische Komponenten, die reversible Formveränderungen (z. B. Kontraktion, Expansion oder Rotation) ausführen und so die Funktionen von natürlichen Muskeln imitieren können, werden daher auch als künstliche Muskeln bezeichnet.

Zu den bekannteren Technologien zählen piezoelektrische Aktoren und Formgedächtnislegierungen (Shape-Memory Alloys = SMA), die bereits in Anwendungsbereichen wie z. B. dem Automobil- und Maschinenbau, der Halbleiterindustrie, der Medizin, der Robotik oder der Luft- und Raumfahrt etabliert sind. Industrielle piezoelektrische Aktoren (z. B. Blei-Zirkonat-Titanat-Mischkeramiken) weisen sehr präzise Bewegungen auf und zeigen ein schnelles Ansprechverhalten, bei gleichzeitig hoher Krafterzeugung und Wandlungseffizienz. Formgedächtnislegierungen, wie Nitinol (NiTi) oder andere Nickel-Titan-Legierungen (z. B. NiTiCu, NiTiFe) besitzen hingegen ein hervorragendes Leistungsgewicht, lange Lebenszyklen, sensorische Fähigkeiten und ein sehr geringes Volumen, was sie für den Einsatz als künstliche Muskeln prädestinieren.

Die mit den Formgedächtnislegierungen verwandten Formgedächtnispolymere (Shape Memory Polymers = SMP) könnten ebenfalls als Aktormaterialien genutzt werden. Sie folgen dem gleichen Funktionsprinzip wie Formgedächtnislegierungen und können nicht nur durch elektrischen Strom sowie direkte Temperaturänderungen, sondern auch durch andere Reize, wie z. B. magnetische Felder, Licht bestimmter Wellenlängen, akustische Signale, Lösungsmittel oder eine Änderung der Zusammensetzung des umgebenden Mediums aktiviert und gesteuert werden. Dabei sind die Reaktionszeiten in der Regel jedoch derzeit noch relativ langsam.

Andere künstliche Muskeln basieren auf elektroaktiven Polymeren (EAP). Dabei handelt es sich um leichte, nachgiebige Kunststoffe, deren Form durch das Anlegen einer elektrischen Spannung reversibel verändert werden kann. Vorteile der Aktorentwicklung auf Basis dieser Materialien können beispielsweise eine hohe mechanische Flexibilität, die einfache Materialzusammensetzung, eine hohe Bruchzähigkeit und inhärente Vibrationsdämpfung sowie ihre Leichtigkeit sein. Des Weiteren sind sie oftmals einfach zu fertigen bzw. verhältnismäßig kostengünstig. EAP werden aufgrund unterschiedlicher Wirkprinzipien in elektronische und ionische EAP eingeteilt. Bei elektronischen EAP beruht die Verformung auf der Wanderung von Elektronen im Material, wie z. B. bei dielektrischen oder ferroelektrischen Elastomeren. Elektronische EAP benötigen in der Regel eine hohe Aktivierungsspannung (> 150 V/µm), sie besitzen jedoch eine hohe Energiedichte sowie eine schnelle Reaktionszeit (im Bereich von Millisekunden). Dielektrische Elastomeraktoren besitzen hohe Schaltfrequenzen, weisen eine große Dehnbarkeit und gute Wirkungsgrade aus. Im Normalfall benötigen sie jedoch Steuerspannungen im Kilovolt-Bereich, was bestimmte Anwendungen erschwert bzw. ausschließt. Schnellere und stärkere Auslenkungen bei verbesserter Lebensdauer wurden 2018 durch die Kombination von dielektrischen Elastomeraktoren mit hydraulischen Elementen erzielt (Hydraulically Amplified Self-Healing Electrostatic (HASEL) Actuators).

Zu den elektronischen EAP zählen auch die flüssigkristallinen Elastomere. Ihre Eigenschaften, wie das Ansprechverhalten, die Elastizität oder die Kraftentfaltung, können durch unterschiedliche Arten der Vernetzung im Elastomer und durch den Einsatz verschiedener chemischer Komponenten eingestellt werden. Sie können z. B. auch durch Erwärmung oder UV-Bestrahlung geschaltet werden.

Ionische EAP verformen sich aufgrund der Wanderung von Anionen und Kationen und einer damit einhergehenden Massenverschiebung. Dies ist beispielsweise bei ionisch leitenden Polymeren oder Polymer-Metall-Kompositen der Fall. Ihre Vorteile liegen in der geringeren Aktivierungsspannung und den natürlichen bi-direktionalen Bewegungseigenschaften (Verformung in unterschiedliche Richtungen). Da es sich häufig um biokompatible Materialien handelt, sind sie insbesondere für eine Verwendung im medizinischen Bereich attraktiv. Ihr Einsatz ist jedoch dadurch limitiert, dass sie vor Austrocknung geschützt werden müssen, um ihre Funktionalität zu erhalten. Zudem besitzen sie im Vergleich zu elektronischen EAPs eine geringere Verformungskraft.

Auch an Hydro- und Organogelen wird geforscht. Da sie in der Lage sind, große Mengen an Flüssigkeit aufzunehmen bzw. abzugeben, bieten sie im Vergleich die größte elektrisch steuerbare Volumenveränderung. Auch hier wird zwischen ionischen und nicht-ionischen Gelen unterschieden, die sich je nach spezifischen Typ in ihren Eigenschaften voneinander unterscheiden können – z. B. in ihrer Reaktionszeit, den Materialeigenschaften (von biokompatibel bis umweltunfreundlich) oder in der Größe der benötigten Steuer- bzw. Betriebsspannung. Hydro- oder Organogele können prinzipiell auch über Änderungen der Temperatur oder des pH-Wertes, durch Lichtreize oder Chemikalien gesteuert werden. Typischerweise sind die induzierten Bewegungen von Hydro- und Organogelen langsam, bedingt durch die langsamen Diffusionsprozesse in solchen Gelen.

Thermo-, magneto- oder elektro-rheologische Schäume und Elastomere sind ebenfalls als Aktormaterialien denkbar. Ihre mechanischen Eigenschaften können mittels bestimmter Reize (Temperatur, Magnetfeld, Elektrizität) kontrolliert werden. Beispielsweise kann die Steifigkeit eines magnetorheologischen Elastomers durch das Anlegen eines Magnetfeldes verändert (Flüssigkeit – Feststoff) und so eine Bewegung initiiert werden. Dabei werden jedoch sehr lange Reaktionszeiten verzeichnet und die Kontrolle solcher Materialien ist aktuell schwierig.

Die Herstellung künstlicher Muskeln ist oft noch teuer. Ein Beispiel für ein kostengünstiges Konzept ist ein generativ gefertigter Silikonaktuator mit eingeschlossenen Alkohol-Tröpfchen, die durch einen eingebetteten Heizdraht erhitzt werden können. Der flüssige Alkohol wird dabei gasförmig, wodurch sich der Silikonkörper ausdehnt und so das Tausendfache seines Eigengewichts heben kann.

Ein anderer interessanter Ansatz ist die Verdrillung von Fasern aus Kohlenstoffnanoröhren, Polymeren oder anderen volumenveränderlichen Materialien. Beispielsweise wurde aus herkömmlicher Angelschnur (Nylon) durch Superspirallisierung ein künstlicher Muskel hergestellt, der sich um bis zu 50 % verkürzen und dabei etwa hundertmal schwerere Lasten als natürliche Muskeln gleicher Dicke heben kann.

Anwendungsgebiete für die beschriebenen weichen, leichten und leisen Aktoren sind vor allem in der Prothetik, der Robotik, und der Medizin zu sehen, aber auch in vielen spezialisierten Anwendungsbereichen wie beispielsweise sogenannten textilen Aktoren. Dabei werden Textilfasern mit leitfähigen Polymeren beschichtet, aus denen leichte, flexible und kontraktionsfähige Stoffe gestrickt oder gewebt werden können. Ob und inwiefern die neuen Aktorenmaterialien eingesetzt werden können, hängt maßgeblich von den zukünftigen Forschungsfortschritten der einzelnen Konzepte ab.

Fraunhofer Institut für
Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen
Appelsgarten 2, 53879 Euskirchen
berichtet in jeder Ausgabe exklusiv
über Werkstofftrends

Speichere in deinen Favoriten diesen permalink.