Digitale Lebenslaufakten in der industriellen Instandhaltung

Industrielle Kollaboration

Die digitale Vernetzung ist im mittelständischen Maschinen- und Anlagenbau ein wichtiger Baustein, um die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens zu sichern. Unter anderem werden komplexe Anlagen und Maschinen mit industriellen Dienstleistungen verknüpft. Dazu zählen beispielsweise Wartungs- oder Remote-Dienstleistungen. Industrielle Dienstleistungen werden durch eine Verknüpfung von datenbasierten Services und physischen („Vor-Ort“-) Services gestaltet. Das setzt jedoch eine Zusammenarbeit verschiedener Akteure bei der Erbringung solcher Services voraus: Anlagenhersteller, IT- und Servicedienstleister bündeln ihre Kompetenzen und bringen gemeinsame Wertschöpfungsnetzwerke hervor. Bisher mangelt es hierfür allerdings an einer transparenten und standardisierten Lösung, die es ermöglicht, die Daten für eine unternehmensübergreifende Wertschöpfung für alle Partner sichtbar, verwertbar und austauschbar zu machen. Weiter gibt es bisher keine einheitliche Sprache, die eine effiziente und sichere Vernetzung von unterschiedlichen Unternehmen gewährleistet. Einen vielversprechenden Ansatz für diese Problematik liefern digitale Lebenslaufakten.

Das Prinzip der digitalen Lebenslaufakte

Durch die fortschreitende Digitalisierung in der Industrie reicht ein reines CAD-basiertes Datenmanagement heutzutage für die immer komplexeren Anlagen längst nicht mehr aus: Ihr Produktlebenszyklus kann kaum noch transparent und ganzheitlich abgebildet werden [1]. Ein Werkzeug zur lückenlosen Dokumentation des Produktlebenszyklus stellt die sogenannte digitale Lebenslaufakte dar. Sämtliche anlagenbezogene Informationen werden in ihr gesammelt. Sie dient als lebendiger Wissensschatz und ist die Grundlage für die Arbeit an Anlagen, für Arbeitsentscheidungen, für den Nachweis von Tätigkeiten sowie Basis zur Kommunikation. Aufgrund ihrer Vielseitigkeit und Anpassungsfähigkeit in den verschiedensten Phasen der Nutzungszeit einer Anlage können Lebenslaufakten in verschiedensten technischen Bereichen eingesetzt werden.

Angefangen bei der Produktentwicklung, der Möglichkeit einer virtuellen Inbetriebnahme, dem Wissensmanagement, der Optimierung der Instandhaltung bis zum Management stetig wechselnder Produkte und Ersatzteile kann die digitale Lebenslaufakte in allen Phasen unterstützend wirken.

Das Deutsche Institut für Normung (DIN) hat Ende 2018 einen ersten Standard über die strukturelle und inhaltliche Festlegung von Lebenslaufakten für technische Anlagen herausgebracht (DIN 77005-1:2018-09). Der erste Teil dieser Norm stellt einen koordinierten Informationsaustausch sicher, damit alle Beteiligten (Planer, Anlagenbetreiber, Instandhaltungsdienstleister und Gutachter) zu jeder Zeit über vollständige und aktuelle Anlageninformationen verfügen können [2]. Ein weiteres Beispiel zur Standardisierung anlagenbezogener Daten mithilfe digitaler Lebenslaufakten stellt die DIN SPEC 91303 „Bestandteile und Struktur einer Lebenslaufakte für Erneuerbare-Energie-Anlagen“ dar. Durch die DIN SPEC 91303 sollen die Informationsstrukturen aus unterschiedlichen Lebenslaufphasen standardisiert werden und stellen somit die Grundlage für eine einheitliche Informationsquelle dar, die dann von den jeweiligen Anwendungssystemen genutzt werden können. Durch die Lebenslaufakte sollen sämtliche erfolgten Service-Einsätze und Modifikationen an einer Anlage einheitlich nachgewiesen werden können. Insbesondere im Ersatzteilmanagement der jeweiligen Anlage ist dies von immenser Bedeutung.

Einsatzbereiche der digitalen Lebenslaufakte

In der Unternehmenspraxis finden sich bereits zahlreiche digitale Umsetzungsbeispiele des Prinzips der Lebenslaufakte. In der Produktion, z. B. bei der holzbearbeitenden Industrie, werden die Vorzüge einer digitalen Lebenslaufakte bspw. in Form eines digitalen Zwillings angewendet. Aus den realen Steuerungskomponenten wird hier ein digitales Abbild erstellt. So kann die eigentliche Maschine 1:1 in Echtzeit simuliert werden. Das ermöglicht unter anderem eine virtuelle Inbetriebnahme, aber insbesondere auch die Optimierung von Service und Wartung [3].

Ein weiterer Anwendungsfall zur Verwendung der digitalen Lebenslaufakte ist im Bereich des Wissensmanagements wiederzufinden. Hier werden mehrdimensional verknüpfte Elemente innerhalb eines Fertigungsprozesses transparent dargestellt. Durch den Einsatz von digitalen Lebenslaufakten können einerseits bewährte Strukturen beibehalten werden und andererseits führt der schnelle Zugriff auf alle Informationen zu einer hohen Prozesstransparenz. Zusätzlich erlauben sie umfangreiche Recherchemöglichkeiten und eine direkte Sicht auf die digitalen Akten. So können verschiedene Blickwinkel für einzelne Fachbereiche geschaffen werden [4]. Mithilfe der Lebenslaufakte werden jedoch nicht nur bislang erfolgte Wechsel von defekten Komponenten dokumentiert. Sie ermöglicht auch die stets richtige Identifizierung und Bestellung der benötigten Ersatzteile. Das kann letztendlich zur Erkennung von Risiken bei der Verfügbarkeit von Ersatzteilen dienen. Sofern Ersatzteile nicht mehr verfügbar sein sollten, können die Lebenslaufakten so auch einen Beitrag für ein proaktives Obsoleszenz-Management leisten [3].

Erste Anwendungen von digitalen Lebenslaufakten finden sich zudem in der Industriebranche der Blockheizkraftwerke wieder. Hierbei sind Module in Blockheizkraftwerken mit Sensoren ausgerüstet, welche neben den Betriebsdaten ebenso Störungsfälle aufzeichnen und direkt an den Instandhaltungsdienstleister weitersenden [1].

Potentiale der digitalen Lebenslaufakte für die vernetzte Wertschöpfung

Durch die Dokumentation von z. B. Betriebs- und Wartungsdaten ergeben sich Potenziale wie eine optimierte Einschätzung von Störungen oder Verschleißverhalten. Diese werden heute noch nicht erschlossen. Hierfür müsste eine lückenlose und transparente Dokumentation vorliegen, wie etwa welche Pumpe und welcher Motor verbaut wurden, welche Software in der Antriebssteuerung eingesetzt wird und wann die letzte Wartung von welcher Person durchgeführt wurde. Durch eine solch detaillierte digitale Dokumentation aller produkt- und servicespezifischer Vorgänge beim Kunden entsteht ein digitales Abbild über den gesamten Lebenszyklus der betroffenen Anlage.

Die aktuellen Einsatzbereiche zeigen zwar auf, dass Lebenslaufakten-Lösungen für einzelne Sparten existieren. Eine einheitliche Lösung zur Erfassung, Auswertung und wirtschaftlichen Nutzung sämtlicher betriebs- und servicerelevanter Daten existiert hingegen noch nicht. Bereits die Vernetzung der beteiligten Akteure stellt die Industrie vor große Herausforderungen.

Die (Weiter-)Entwicklung der digitalen Lebenslaufakte besitzt das Potenzial, einen wichtigen Beitrag zur vernetzten Wertschöpfung zu leisten. Die Herausforderungen liegen zum einen darin, eine einheitliche, standardisierte Vorgehensweise bei der Erfassung der Daten festzulegen. Dabei spielen Kriterien wie Format, Qualität und Quantität der zu erfassenden Daten eine wichtige Rolle. Eine Blaupause dieser Vision liefert Abbildung 1. Informations- und Kommunikationstechnologien (IKT) befähigen Unternehmen, sich untereinander zu vernetzen und eigenständig Daten in wirtschaftlicher Weise zu verwerten. Es können sowohl physische als auch datenbasierte Services entwickelt und mit Sachleistungen wie einer Produktionsanlage kombiniert werden. Verschiedenste Akteure sind hier in der Lage einen entsprechenden Leistungsbaustein beizutragen. Neben konventionellen Instandhaltungsdienstleistern sind bspw. IT-Dienstleister involviert, um Softwarebausteine einzubringen, die erstere nicht ohne weiteres zur Hand haben. Die Vernetzung und Datennutzung anhand einer Lebenslaufakte stellt die Basis zur Entwicklung innovativer industrieller Dienstleistungen im Sinne einer „Koproduktion“ dar.

Die digitale Lebenslaufakte als Basis einer vernetzten Service-Wertschöpfung

Abbildung 1: Die digitale Lebenslaufakte als Basis einer vernetzten Service-Wertschöpfung

Herausforderungen bei der Weiterentwicklung der digitalen Lebenslaufakte

Die Lebenslaufakte kann zukünftig die Grundlage für Dienstleistungs-Wert­schöp­fungsnetzwerke sein. Die Herausforderungen bei der Erschließung solcher Netzwerke sollen nachfolgend aufgezeigt werden:

  • Alle Unternehmen mitnehmen
    Aufgrund der Vielschichtigkeit und Komplexität von vernetzten Dienstleistungen und den Einstiegshürden in Wertschöpfungsnetzwerke stehen insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) vor großen Herausforderungen [5]. Für diese Unternehmen müssen einfache und rasch umzusetzende Lösungen geschaffen werden. Nur so kann eine hohe Akzeptanz neuer Lösungen erreicht werden.
  • Datentransparenz und Manipula­tionssicherheit
    Eine weitere Hürde ist die Umgestaltung der digitalen Lebenslaufakte. Damit sollen die Daten nicht nur erfasst, sondern auch über den gesamten Lebenszyklus abbildbar und verwertbar gemacht werden. Das große Potenzial bei einer überbetrieblichen Verwendung der digitalen Lebenslaufakte führt zu einer weiteren Herausforderung: Durch die Zusammenarbeit aller Akteure muss die Transparenz sowie die manipulationsfreie Sicherung der Daten gewährleistet werden.
  • Standards schaffen
    Standards sind zu schaffen und dem Aufkommen heterogener Insellösungen ist entgegenzuwirken, um die entstehenden Netzwerke nicht zu isolieren und flexibel zu gestalten. Das Potenzial einer frei vernetzten Wertschöpfungssystematik wird von Insellösungen nicht ausgeschöpft, da sie nur einem eingeschränkten Kreis (kooperierende Partner und Kunden) zur Verfügung stehen und außenstehenden Unternehmen Regeln aufzwingen. Stattdessen eignet sich ein Netzwerk mit geringen Einstiegshürden, welches dennoch alle Interessen in Bezug auf Datensicherheit, -integrität und -souveränität berücksichtigt. Frühzeitig muss zudem eine einheitliche Sprache der digital vernetzten industriellen Dienstleistung etabliert werden, damit alle servicerelevanten Daten standardisiert abgelegt und verwaltet werden können. Nur so lassen sich vernetzte Services im Sinne einer Zusammenführung von datenbasierten und physischen Dienstleistungen realisieren. Sie liefern die Basis zur Gestaltung industrieller Produkt-Service-Systeme.
Ausblick

Um die Potenziale der digitalen Lebenslaufakte auszuschöpfen, müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, welche agile und bedarfsorientierte kooperative Wertschöpfungsnetzwerke unter Bedingungen eines sicheren und souveränen Datenaustauschs – insbesondere für den Mittelstand – überhaupt erst ermöglichen. Nur wenn es eine einheitliche Sprache für die Entwicklung und Umsetzung vernetzter Dienstleistungen gibt, werden auch kleine Unternehmen in der Lage sein, an der vernetzten Wertschöpfung teilzuhaben. Normative Standards leisten hierfür ihren Beitrag. Der erste Teil der DIN 77005 ist ein erster Schritt in die richtige Richtung gewesen. Der zweite Teil, welcher sich detaillierter mit der digitalen Lebenslaufakte befassen soll (u. a. den Spezifikationen von Mindestanforderungen), ist ein weiterer Meilenstein zur Implementierung der digitalen Lebenslaufakte in der Industrie.

Die Instandhaltungs-Forschung an der TU Dortmund und dem Fraunhofer IML widmet sich in Forschung und Lehre dem Thema „Digitale Lebenslaufakten“. Den aufgeführten Herausforderungen wird durch verschiedene Initiativen begegnet. Perspektivisch wird auf die Entwicklung einer Software-Infrastruktur abgezielt, welche unter Wahrung der Datensicherheit und Souveränität der teilnehmenden Akteure eine unternehmensübergreifende Wertschöpfung und damit die vernetzte Entwicklung und Umsetzung von internetbasierten Services ermöglicht. Die digitale Lebenslaufakte liefert hier das primäre Wirkprinzip.


Autor*innen:

Maximilian Austerjost, Lehrstuhl für Unternehmenslogistik der TU Dortmund

Alexander Michalik, Lehrstuhl für Unternehmenslogistik der TU Dortmund

David Kiklhorn, Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML

Michael Wolny, Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML

Quellen:

[1] Zimmermann, R.; Zscheile, F. (2016): Von der Maschinenakte zur Lebenslaufakte, Unter: https://www.frankzscheile.de/images/arbeitsproben/Von-derMaschinenakte zurLebenslaufakte_prod_16-1.pdf, Zugriff am 17.09.2019

[2] Sauber dokumentiert – DIN 77005-1 „Lebenslaufakte für technische Anlagen – Teil 1: Strukturelle und inhaltliche Festlegungen“ (2018) Unter: https://www.cc-stuttgart.de/presseportal/
sauber-dokumentiert-din-77005-1-lebenslaufakte-fuer-technische-anlagen-teil-1-strukturelle-und-inhaltliche-festlegungen-jetzt-verfuegbar/, Zugriff am 17.09.2019

[3] Brumby, L. (2017): Normen und Standards sind Basis der Smart Maintenance – Aktuelle Standardisierungen zum Asset Management und zur digitalen Lebenslaufakte sind Enabler der Industrie 4.0, Unter: https://www.industrie-management.de/node/75, Zugriff am 17.09.2019

[4] OPTIMAL SYSTEMS GmbH (2015): Digitale Lebenslaufakte bei der Schoeller-Bleckmann Oilfield Technology GmbH, Unter: https://www.optimal-systems.de/kunden/schoeller-bleckmann/, Zugriff am 20.10.2019

[5] Gehring, M. et al. (2017): Digitalisierung in Schweizer Klein- und Mittelunternehmen. KMU-Spiegel 2017. FHS St. Gallen. Goldach: Schmid-Fehr AG

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