Living Materials

Dr. Britta Pinzger, Dr. Heike Brandt, Dr. Diana Freudendahl

An der Schnittstelle der klassischen Materialwissenschaften und der synthetischen Biologie ist in den letzten Jahren das Forschungsfeld der Living Materials (oder Engineered Living Materials = ELM) neu entstanden und in dieser Zeit bereits enorm gewachsen. Ziel ist es dabei, lebende Zellen als aktive Komponenten zu verwenden, um nicht lebender Materie lebensähnliche Fähigkeiten zu verleihen, z. B. sich zu vermehren, sich selbst zu heilen, sich an Umweltreize anzupassen oder komplexe Moleküle zu synthetisieren. Als lebende Komponente werden Bakterien, Hefen, Algen oder Säugetierzellen eingesetzt, die oftmals zuvor gentechnisch verändert wurden, während als nicht lebende Materialkomponente organische oder anorganische Polymere sowie Mineralien oder Metalle verwendet werden.

Prinzipiell kann bei der Herstellung von Living Materials zwischen zwei Ansätzen unterschieden werden. Beim Bottom-up-Ansatz synthetisieren und erhalten die Zellen ihre umgebende Matrix selber, wobei im Wesentlichen drei Modelle zum Einsatz kommen: die Biomineralisation, bakterielle Biofilme sowie bakterielle Cellulose. Dagegen wird beim Top-down-Ansatz ein nicht lebendes Material verwendet, in das die lebenden Zellen eingearbeitet werden, z. B. durch Verkapselung oder Beschichtung. Dabei werden oftmals Hydrogele als Matrix verwendet, da diese wasserunlöslichen Polymere ausreichend Feuchtigkeit und Nährstoffe für die lebenden Zellen zurückhalten. Die in einem Top-down-Ansatz hergestellten Materialien werden auch Hybrid Living Materials (HLM) genannt, während die im Bottom-up-Ansatz hergestellten Materialien als biologische ELM bezeichnet werden.

Die Biomineralisation ist ein natürlicher Prozess, durch den lebende Organismen anorganische Mineralien bilden, z. B. um Schalen zu formen. Die durch Bakterien induzierte Ausfällung von Calciumcarbonat wird bei der Selbstheilung von Rissen im Beton genutzt. Zusammen mit einer Nährstoffquelle werden die Bakterien, während des Mischens in den Beton eingearbeitet, oftmals zum Schutz vor Beschädigung in Hydrogele oder andere Polymere verkapselt. Wenn Risse auftreten, beginnen die Bakterien Calciumcarbonat auszufällen, wodurch die Risse ausgefüllt werden. Mit Calcit-produzierenden Bakterien wurden sogar schon lebende Bausteine hergestellt, die gar keinen Zement enthalten. Hierbei werden Photosynthese-betreibende Cyanobakterien in einer Mischung aus Calcium-enthaltendem Medium, Sand und gelöster Gelatine kultiviert. Die Cyanobakterien nehmen CO2 auf, um dieses während der Photosynthese in Zucker umzuwandeln. Nebenprodukte der Photosynthese wechselwirken mit den Calcium-Ionen aus dem Medium, was zur Ausfällung von Calciumcarbonat führt. Bei diesem Mineralisierungsprozess werden Sand und Gelatine zu einem festen Baustein gebunden. Als lebende Baumaterialien können Living Materials so die Logistik und den Bau in abgelegenen Umgebungen vereinfachen, da vorhandener Sand und Wasser genutzt werden können und nur noch Bakterien hinzugefügt werden müssten, anstatt tonnenweise Baumaterialien zu transportieren. Außerdem können sie zur Stabilisierung von Böden eingesetzt werden, z. B. um Bodenabtragungen bei Niederschlägen zu verhindern.

Sehr viel Pionierarbeit bei der Entwicklung von Living Materials konzentrierte sich auf Biofilme der Darmbakterien E. coli und B. subtilis, da Biofilme langlebig sind und von den Bakterien selbst wieder erneuert werden. In einem Biofilm werden die Zellen durch eine selbst produzierte extrazelluläre polymere Matrix aus Polysacchariden, Proteinen und Nukleinsäuren zusammengehalten. Die Bakterien wurden beispielsweise gentechnisch so verändert, dass Proteine im Biofilm mit funktionellen Peptiden fusioniert waren. Durch Fusion von Biofilm-Proteinen mit einem Influenzavirus-bindenden Peptid wurde z. B. ein Biofilm erzeugt, der in der Lage war, Viruspartikel aus wässrigen Lösungen einzufangen. Außerdem konnten Biofilme hergestellt werden, die den Abbau des Pestizids Paraoxon oder des toxischen industriellen Nebenproduktes MHET (Mono-2-hydroxyethyl)-terephthalsäure) katalysieren konnten.

Bakterielle Cellulose ist aufgrund ihrer großen mechanischen Stabilität und ihrer hohen Produktionsausbeuten ein vielversprechender und kostengünstiger Kandidat bei der Entwicklung von Living Materials. Da die Bakterien innerhalb des Cellulose-Netzwerks verbleiben, können sie das Material durch weiteres Wachstum und weitere Cellulose-Produktion regenerieren. Es wurde gezeigt, dass millimetergroße Partikel aus bakterieller Cellulose in der Lage sind, Schäden zu erkennen und zu reparieren sowie unterschiedliche Materialien wie Holz, Baumwolle oder synthetische Schwämme innerhalb von Tagen komplett miteinander zu fusionieren. Dies bietet das Potenzial für eine Vielzahl von Anwendungen, wie z. B. Risse in einer Windschutzscheibe zu erkennen und zu heilen. Auf der Basis von bakterieller Cellulose wurden ebenso bereits lebende Filtermembranen entwickelt, die effektiv Krankheitserreger aus dem Wasser entfernen können.

Gerade in der Medizin eröffnen Living Materials, die in einem Top-Down-Ansatz hergestellt werden, zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten. Bakterien oder humane Zellen können z. B. so programmiert werden, dass sie als Antwort auf bestimmte physiologische Reize medizinische Wirkstoffe produzieren und freisetzen. Die so programmierten Zellen werden in ein implantierbares Trägermaterial eingeschlossen, welches durchlässig für den Wirkstoff, nicht aber für die Zellen ist. Diese verbleiben dauerhaft im Trägermaterial und stehen als langfristige Wirkstoffproduzenten zur Verfügung. Um Augenerkrankungen direkt im Auge zu behandeln, wurde eine lebende Kontaktlinse aus einem Hydrogel entwickelt. Die Bakterien sind in der Kontaktlinse eingeschlossen, während der von ihnen produzierte Wirkstoff die Linse verlassen kann und dann direkt vom Auge aufgenommen wird. Ebenso wurden lebende Wundverbände aus einem Hydrogel entwickelt, in die gentechnisch veränderte Bakterien eingebettet sind. Diese synthetisieren z. B. kontinuierlich den Wirkstoff Lysostaphin, welcher gegen den Krankenhauskeim Staphylococcus aureus wirkt. Außerdem können Living Materials als oral applizierbare Sensoren eingesetzt werden, die Entzündungen, Blutungen oder Krankheitsmarker detektieren können.

Living Materials bieten ein großes Potenzial für zahlreiche Anwendungen und eröffnen neue Wege für eine nachhaltigere Materialproduktion. Auch wenn einige Anwendungsmöglichkeiten bereits als Prototypen realisiert wurden, bestehen noch große Herausforderungen, die im Labor gewonnenen Ergebnisse auf Realbedingungen zu übertragen. Insbesondere der Einsatz von gentechnisch veränderten Organismen ist mit Beschränkungen und Bedenken bezüglich ihrer Freisetzung in die Umwelt verbunden. Außerdem muss das Überleben der Organismen in oft widrigen Umgebungen, z. B. ein sehr hoher pH-Wert im Beton, langfristig sichergestellt werden. Eine der attraktivsten Eigenschaften von Living Materials ist die Selbstheilung, die durch das normale Zellwachstum verursacht wird und wenige Stunden (Biofilme) bis Tage (bakterielle Cellulose) dauert. Viele Anwendungen erfordern jedoch kürzere Reaktionszeiten. Nicht zuletzt stellen Produktionsraten und -volumina bislang einen limitierenden Faktor bei der Herstellung von Living Materials dar.

Fraunhofer Institut für Naturwissenschaftlich-Technische Trendanalysen
Appelsgarten 2, 53879 Euskirchen
berichtet in jeder Ausgabe exklusiv über Werkstofftrends

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